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04. Mai 2011, von Michael Schöfer
Osama bin Laden hat gesiegt


Klingt auf den ersten Blick reichlich paradox, denn der Gründer von Al-Qaida wurde schließlich gerade von einer amerikanischen Spezialeinheit erschossen (zumindest behaupten das die offiziellen Verlautbarungen der US-Regierung, nachprüfbare Beweise fehlen allerdings bislang). Osama bin Laden hat mit seinen Anschlägen vom 11. September offenkundig wesentlich mehr angerichtet, als bloß rund 3.000 Menschen zu töten. Jedenfalls mehr als gemeinhin vermutet, denn bin Laden hat die USA tiefgreifend verändert, und zwar nicht unbedingt zum Positiven. In gewisser Weise hat er dadurch sogar gesiegt, selbst wenn diese Interpretation oberflächlich betrachtet grotesk erscheint.

Durch die Terrorangriffe auf New York und Washington haben die Vereinigten Staaten ihren erklärten Weg, die Einhaltung der Menschenrechte zu garantieren, erneut verlassen. Nach wie vor sind in Guantanamo Menschen ohne Anklage und Richterspruch inhaftiert, einige von ihnen dürften trotz fehlendem Gerichtsurteil nie wieder auf freien Fuß kommen. Die Gefangenen wurden kurzerhand zu "ungesetzlichen Kombattanten" erklärt - ein Konstrukt, das es im Völkerrecht gar nicht gibt. Die Genfer Konvention sei auf "ungesetzliche Kombattanten" nicht anwendbar, hieß es lapidar. Die Gründernation der Vereinten Nationen missachtet dadurch fortwährend nationales wie internationales Recht.

Das Gleiche gilt in Bezug auf die faktische Wiedereinführung der Folter. "Die USA foltern nicht", beteuerte George W. Bush unentwegt. Dass sie es trotzdem tun, ist inzwischen hinreichend belegt. Offiziell hat sein Nachfolger, Barack Obama, die Anwendung von Folter abgeschafft. Gleichwohl sprechen etwa die Haftbedingungen des mutmaßlichen Whistleblowers Bradley E. Manning eine andere Sprache. Folter hat viele Facetten. Die rote Linie wurde eindeutig überschritten. Und es scheint den USA schwer zu fallen, dorthin zurückzukehren. Etwas, wovor Kritiker stets gewarnt haben.

Die Sitten verwildern generell. So wird beispielsweise die UNO-Resolution 1973 dazu missbraucht, in Libyen einen Regimewechsel unter Inkaufnahme des Tyrannenmords herbeizuführen. Die Resolution ermächtigt ihre Mitgliedstaaten, eine Flugverbotszone über Libyen einzurichten und "alle notwendigen Maßnahmen" zum Schutze der Bevölkerung zu ergreifen. Sie ermächtigt indes nicht, Gaddafi und seine Familie auszulöschen, selbst wenn diese Massenmörder sein sollten. Gaddafi gehört vor den Internationalen Strafgerichtshof.

Letzteres gilt natürlich auch in Bezug auf Osama bin Laden. Die genauen Umstände seines Todes liegen noch im Dunkeln, denn die Amerikaner verbreiten unterschiedliche Versionen. Zunächst wurde behauptet, bin Laden habe sich der Kommandoaktion der Navy Seals mit Waffengewalt widersetzt. Jetzt heißt es, er sei unbewaffnet gewesen, habe aber dennoch Widerstand geleistet. Das riecht ziemlich nach außergerichtlicher Tötung - etwas, das einem Rechtsstaat strikt verboten ist.

Warum man einen unbewaffneten bin Laden nicht festnehmen konnte, um ihn anschließend vor ein ordentliches Gericht zu stellen, ihn vielmehr mit einem Kopfschuss getötet hat, ist unverständlich. In den USA sind "Taser" weit verbreitet, damit kann man jeden Gegner in Sekundenbruchteilen kampfunfähig machen. Bei der amerikanischen Polizei gehören Taser zur Standardausrüstung, in Deutschland werden sie teilweise von Polizei-Spezialeinheiten verwendet. Bei den Navy Seals jedoch nicht? Vor allem wenn man den Staatsfeind Nr. 1 im Visier hat und das Ziel der Aktion angeblich dessen Festnahme war?

Man muss keine Sympathien für Gaddafi oder bin Laden haben, um solche Methoden zu kritisieren. Sympathien für das Völkerrecht und den Rechtsstaat genügen vollkommen. Es geht folglich nicht um blutrünstige Tyrannen oder durchgeknallte Massenmörder, sondern um Errungenschaften der Zivilisation, die bis dato als unveräußerlich galten. Zumindest in der Theorie. Praktisch sieht das Ganze, wie unschwer zu erkennen ist, anders aus.

Schauen wir einmal selbstkritisch in den Spiegel: Was ist bloß aus uns geworden? Es hat den Anschein, als sei der Leviathan erwacht. Wo wir am Ende auf der Rutschbahn nach unten landen werden, ist offen. Der Trend zu ungesetzlichem Handeln durch die Staaten der westlichen "Wertegemeinschaft" hält jedenfalls weiter an. Wenn es politisch opportun erscheint, regiert nicht das Recht, sondern die Willkür. Damit wurde freilich die Büchse der Pandora geöffnet.

Osama bin Laden hat demzufolge das Antlitz des Westens nachhaltig verändert. Es geschehen mittlerweile Dinge, die man vor der Jahrtausendwende - wenigstens bei uns - als längst überwunden glaubte. Vielleicht war genau das Osama bin Ladens Absicht. Und man muss eingestehen, es ist ihm - mit tatkräftiger Hilfe unserer Politiker - vollauf gelungen.