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| Impressum 18. Mai 2011, von Michael Schöfer Die Gleichheit vor dem Gesetz Wie bei den meisten Sexualdelikten gibt es für die Tat keine Zeugen. Nur die Beteiligten wissen, was genau vorgefallen ist. Das gilt im Fall Jörg Kachelmann wie im Fall Dominique Strauss-Kahn. Und nicht der Boulevard entscheidet, ob eine Vergewaltigung stattgefunden hat, sondern ein ordentliches Gericht. Man darf natürlich vermuten, dem mächtigen IWF-Chef sei eine Falle gestellt worden. Dass sich Geheimdienste mitunter solcher Methoden bedienen, ist hinreichend belegt. "Und ewig lockt das Weib", das wissen auch die Schlapphüte. Schließlich galt der Sozialist Strauss-Kahn als aussichtsreicher Herausforderer des konservativen Präsidenten Nicolas Sarkozy. Vielleicht wollte irgendjemand unbedingt seine Wahl zum französischen Staatschef verhindern, immerhin wäre Strauss-Kahn in diesem Amt der erste Sozialist seit François Mitterrand (1981-1995) gewesen. Das größte Interesse daran hätte zweifellos Nicolas Sarkozy selbst. Und der französische Geheimdienst hält sich, wie wir wissen, nicht immer an die Spielregeln. Darf man heute, im 21. Jahrhundert, noch an die Dreyfus-Affäre erinnern? Dominique Strauss-Kahn ist nämlich Jude. Könnte Antisemitismus das Motiv sein? Und die Amerikaner? Sozialisten sind in ihren Augen nach wie vor bloß verkappte Kommunisten (das politische Differenzierungsvermögen fristet in den USA ein Mauerblümchendasein). Der Fall bietet viel Interpretationsspielraum. Man darf aber genauso vermuten, dass sich Strauss-Kahn tatsächlich eines sexuellen Übergriffes schuldig gemacht hat, denn auch das ist nicht auszuschließen. Merkwürdig ist jedenfalls, dass der IWF-Chef langsam zurückzurudern scheint. Zunächst ließen seine Anwälte verlauten, er besitze für die fragliche Tatzeit ein Alibi, sei nicht am Tatort gewesen und könne demzufolge das Zimmermädchen gar nicht missbraucht haben. Neuerdings heißt es, das Zimmermädchen habe einvernehmlichen Sex mit Strauss-Kahn gehabt. "Sie wollte es", behaupten die Anwälte plötzlich. Das stinkt doch zum Himmel. Offenbar liegen objektive Beweise (DNA-Spuren) vor, die es dem Franzosen unmöglich machen, weiterhin an der ursprünglichen Version festzuhalten. Jeder kundige Beobachter weiß: Die abrupte Änderung der Verteidigungsstrategie ist für DSK verheerend. Aber letztlich entscheidet über all das ein Gericht. Gerade im Fall Strauss-Kahn prallen die unterschiedlichen Rechtskulturen aufeinander. In den USA ist es völlig normal, prominente Verdächtige wie gewöhnliche Verdächtige zu behandeln. Handschellen inklusive. Motto: Vor dem Gesetz sind alle gleich. Das ist einerseits löblich, denn es darf keinen Rabatt für Prominente geben. Warum sollten sie Anspruch auf mehr Diskretion haben als ein Normalbürger? Ob der "Perp Walk" dabei wirklich notwendig ist, darüber mag man in der Tat streiten, denn dieser riecht eher nach medialer Vorverurteilung. Andererseits ist das Rechtssystem der USA in den letzten Jahren stark in Verruf geraten. Stichworte: Guantanamo, Folter, CIA-Geheimgefängnisse, Militärtribunale für mutmaßliche Terroristen, außergerichtliche Tötung Osama bin Ladens etc. Es ist keineswegs das beste der Welt, wie die Amerikaner gerne glauben. Die Welt ist diesbezüglich ganz anderer Meinung. Und das nicht zu Unrecht. Diese negative Beurteilung macht sich jetzt im Fall Dominique Strauss-Kahn bemerkbar. Doch auch in Frankreich melden sich jetzt viele Heuchler zu Wort. Selbstverständlich ist bei einem Verdächtigen wie Strauss-Kahn Fluchtgefahr zu unterstellen, seine weitere Inhaftierung also durchaus verständlich. Außerdem hält sich Frankreich selbst mitnichten immer ans internationale Recht. Ein Beispiel: In Paris wird gerade dem Arzt Dieter K. der Prozess gemacht, er soll 1982 in Deutschland seine 14-jährige Stieftochter Kalinka getötet haben. Das Pikante daran: "Dieter K. war vom leiblichen Vater des Mädchens nach Frankreich entführt worden, um ihn dort vor Gericht zu bringen. (…) Die deutsche Justiz hatte das Verfahren gegen K. im Fall Kalinka schon Jahre zuvor eingestellt. Kalinkas leiblicher Vater, André Bamberski, wirft der deutschen Justiz jedoch vor, den Fall nicht ernst genommen zu haben. Er ließ den heute 75-jährigen Arzt daher 2009 von Deutschland nach Frankreich entführen." [1] Frankreich verstößt damit eindeutig gegen internationales Recht. "Das Verbot der doppelten Strafverfolgung macht den Prozess gegen K. laut Kritikern unmöglich, weil die deutsche Justiz den Arzt bereits letztinstanzlich entlastet hat. Gemäß dem rechtlichen Grundsatz des 'ne bis in idem' darf niemand zweimal für die gleiche Tat verurteilt werden." [2] "Innerhalb des europäischen Strafrechts ist der Grundsatz des 'ne bis in idem' in verschiedenen zwischenstaatlichen Übereinkommen normiert. Die wichtigste Regelung findet sich mittlerweile in Artikel 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens." [3] Schengener Durchführungsübereinkommen, Artikel 54:"Ebenso findet sich der Grundsatz in Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK und in Art. 50 der Europäischen Grundrechtecharta, die in den Vertrag für eine Europäische Verfassung übernommen wurde." [4] Protokoll Nr. 7 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Artikel 4: Recht, wegen derselben Sache nicht zweimal vor Gericht gestellt oder bestraft zu werden Europäische Grundrechtecharta, Artikel 50:Das hat allerdings die französische Justiz bislang überhaupt nicht beeindruckt. Sich jetzt im Fall Strauss-Kahn als juristische Moralapostel aufspielen zu wollen, ist folglich absolut unangebracht. Jeder sollte erst einmal vor der eigenen Haustüre kehren, bevor er mit dem Finger auf andere zeigt. Falls sich die Angelegenheit am Ende nicht doch als ein Komplott gegen den IWF-Chef oder als profane Falschbeschuldigung herausstellen sollte, ist bislang - soweit man das als Außenstehender beurteilen kann - aus rechtsstaatlicher Sicht nichts gegen die Behandlung von Strauss-Kahn einzuwenden, selbst wenn sie Europäern ungewohnt und rüde erscheint. Prominente sind auch nur Menschen. Und Menschen brechen zuweilen das Gesetz. Das heißt, Prominente sind nicht per se Unschuldsengel, aber auch nicht per se schuldig. Der Prominentenstatus soll ihnen vor Gericht weder Vor- noch Nachteile einbringen, denn auch für sie gilt der Gleichheitsgrundsatz. Justitia trägt bekanntlich eine Augenbinde. Die Zeit, mächtigen Männern alles durchgehen zu lassen, ist zum Glück vorbei (wenngleich bei der Durchsetzung des Prinzips zugegebenermaßen noch Mängel existieren). Zum Schluss sei erwähnt: Man sollte den Fall auch einmal aus der Perspektive des mutmaßlichen Opfers beurteilen. "'Er griff dem Opfer ohne Einwilligung an die Brust, versuchte, die Strumpfhose herunterzuziehen, und griff ihm in den Schritt. Sein Penis hatte gewaltsam zweimal Kontakt mit dem Mund des Opfers', heißt es in der Anklageschrift." [5] Einmal unterstellt, die Anklage trifft zu: Welcher Eindruck entstünde, wenn Mächtige damit durchkämen? Die vor ein paar Jahren aus dem westafrikanischen Guinea in die USA eingewanderte Frau ist schließlich als Mensch nicht weniger wert als der einflussreiche Chef des Internationalen Währungsfonds. Niemand steht über dem Gesetz, gleichgültig wie häufig er mit Finanzministern konferieren oder mit Staatschefs speisen mag. Zur Hybris der Mächtigen gehört, daraus gelegentlich Unantastbarkeit abzuleiten. ---------- [1] Süddeutsche vom 29.03.2011 [2] 123recht.net [3] Wikipedia, Ne bis in idem, Regelungen im europäischen Strafrecht [4] Wikipedia a.a.O. [5] Stern.de vom 18.05.2011 |