Home | Archiv | Leserbriefe | Impressum



23. Mai 2011, von Michael Schöfer
Demos allein sind nutzlos


"Europa steht ein heißer Sommer bevor", prophezeien die NachDenkSeiten. Zweifellos atmet die Demo auf dem zentralen Platz "Puerta del Sol" in Madrid atmosphärisch ein wenig von der ägyptischen Revolution auf dem Tahrir-Platz in Kairo (ohne dass Schlägerbanden oder die Polizei auf die Menschen einprügeln oder gar schießen). Damit endet aber schon die Gemeinsamkeit. Die Ägypter wollten den Autokraten Hosni Mubarak und sein korruptes System stürzen, ihr Ziel war die Demokratie. Spanien ist bereits eine Demokratie, man kann Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero bei Wahlen ohne weiteres aus dem Amt jagen. Dazu braucht man bloß eine andere Mehrheit.

Das Anliegen der spanischen Demonstranten ist verständlich, schließlich beträgt dort die Arbeitslosigkeit 21 Prozent (bei jungen Erwachsenen bis 25 Jahren sogar 44,6 Prozent). Die Bewegung "Democracia Real Ya!" (Echte Demokratie Jetzt!) fordert daher in ihrem Manifest u.a. "das Recht auf Behausung, Arbeit, Kultur, Gesundheit, Bildung, politische Teilhabe, freie persönliche Entwicklung und Verbraucherrechte im Sinne einer gesunden und glücklichen Existenz". Sie wendet sich gegen "die Gier nach Macht und deren Beschränkung auf einige wenige Menschen". Sie stellt fest: "Ziel und Absicht des derzeitigen Systems sind die Anhäufung von Geld, ohne dabei auf Wirtschaftlichkeit oder den Wohlstand der Gesellschaft zu achten. Ressourcen werden verschwendet, der Planet wird zerstört und Arbeitslosigkeit sowie Unzufriedenheit unter den Verbrauchern entsteht." Konsequenterweise kommt sie zu dem Ergebnis: "Wir brauchen eine ethische Revolution. Anstatt das Geld über Menschen zu stellen, sollten wir es wieder in unsere Dienste stellen."

Auslöser der Bewegung war die Wut auf die Regierung und deren Sparpakete. Die Menschen haben den Eindruck, dass sie die Zeche für das unverantwortliche Vabanquespiel der Banken zahlen müssen, während man die eigentlichen Verursacher der Krise bislang weitgehend verschont hat. Und dieser Eindruck besteht zu Recht. Überall das Gleiche: Gierige Banker verzocken Milliardenbeträge und müssen vom Steuerzahler gerettet werden, der dann möglichst ohne zu klagen riesige Schuldenberge abtragen soll. Die Banker zocken unterdessen munter weiter, so als sei überhaupt nichts gewesen. Der nächste Crash an den Finanzmärkten ist damit so gut wie vorprogrammiert, selbst wenn wir den jetzigen einigermaßen glimpflich übersehen sollten.

Doch Demos allein sind nutzlos, solange die Demonstranten keine politische Bewegung initiieren, die sich als konkrete Alternative an Wahlen beteiligt. Konzentriert sich die Wut hauptsächlich auf die jeweilige Regierungspartei, kommt lediglich die Opposition an die Macht und das Volk dadurch vom Regen in die Traufe. Bei den gestrigen Regional- und Kommunalwahlen erlebte die Sozialistische Partei Zapateros (PSOE) ein Debakel, sie erreichte bloß 27,8 Prozent der Wählerstimmen. Die oppositionelle Konservative Partei (PP) kam hingegen auf knapp 37,6 Prozent. Ausgerechnet die PP, die, wäre sie an der Regierung, mindestens einen genauso harten Sparkurs fahren würde wie die PSOE. Wohin soll so etwas führen? Das führt zu nichts.

Im arg gebeutelten Griechenland (Arbeitslosenquote derzeit 15,9 Prozent, 40 Prozent bei jungen Menschen bis 24 Jahre) herrscht das gleiche Bild: Die regierenden Sozialisten von Ministerpräsident Giorgos Papandreou (PASOK) liegen nur noch 1,7 Prozentpunkte vor den oppositionellen Konservativen (Nea Dimokratia). Laut Umfragen würden derzeit 21,9 Prozent PASOK wählen, 20,2 Prozent die Konservativen. Ausgerechnet die ND, deren früherer Vorsitzender, der ehemalige Ministerpräsident Kostas Karamanlis, die Hauptverantwortung für die ausufernden Staatsschulden trägt. Niemand in der Eurozone trickste ungenierter als seine Regierung. "So rasant wie die konservative Nea Dimokratia (ND) hat noch keine Partei das Land vor die Wand gefahren. Ein Haushaltsdefizit von 3,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts setzten die Konservativen im Budget 2009 an - tatsächlich wurden es 15,4 Prozent. Die fünfeinhalb Regierungsjahre des konservativen Premiers Kostas Karamanlis waren geprägt durch politische Inkompetenz, Skandale und finanziellen Leichtsinn", stellte die Frankfurter Rundschau fest. [1] Und jetzt können sich die Konservativen fast schon wieder auf die Machtübernahme vorbereiten? Das ist kein schlechter politischer Witz, sondern vielmehr ein Alptraum.

Die spanischen Demonstranten haben zumindest eines erkannt: Schuld trägt unser Wirtschaftssystem, das auf ständiges Wachstum angewiesen ist und beim Run auf das große Geld die Kluft zwischen Arm und Reich drastisch vertieft. Das Dilemma ist freilich, dass weder Sozialisten noch Konservative eine echte Systemalternative anbieten. Beide bewegen sich innerhalb der Leitplanken, die von den Finanzmärkten vorgegeben werden. Das Primat der Politik ist zur Worthülse verkommen. Auf die Einsicht der Herrschenden wartet man wahrscheinlich vergebens, dazu sind sie viel zu tief darin verstrickt.

Beispiel: Die privaten Gläubiger sollen sich "freiwillig" bereit erklären, die Laufzeiten ihrer Kredite an Griechenland zu verlängern, verlautete unlängst aus dem Kreis der EU-Finanzminister. Freiwillig? Das ist eine Lachplatte! Immerhin rettet der Steuerzahler momentan nicht Griechenland, sondern abermals die Banken, die wären nämlich von einer Pleite des Ägäis-Staates am meisten betroffen. Allein die deutschen Kreditinstitute sind dort mit 32 Mrd. Euro engagiert. Verkehrte Welt: Damit etwa die Deutsche Bank ihren Aktionären für das Geschäftsjahr 2010 knapp 700 Mio. Euro Dividende zahlen kann, muss der Steuerzahler Griechenland vor der Pleite bewahren. Mit anderen Worten: Damit sich einige weiterhin den Rachen vollstopfen können, muss die Mehrheit den Gürtel enger schnallen.

"Für Thomas Mayer, Chefökonom der Deutschen Bank, ist die Sache klar: Griechenland soll seine Ausgaben kürzen, gleichzeitig aber nicht die Steuern erhöhen und seine Wettbewerbsfähigkeit wiederherstellen. (...) Niedrigere Ausgaben, hier sieht Mayer vor allem Potential bei Renten, Sozialleistungen und Gehältern im öffentlichen Dienst, bedeuten auch immer niedrigere Einnahmen, da geringere Einkommen versteuert werden müssen und die Konsumsteuern ebenfalls sinken." [2] Eine Abwärtsspirale. Kein Wunder, dass die Menschen in Spanien und Griechenland auf die Straße gehen, die Durchschnittseinkommen bzw. -renten sind dort ohnehin schon recht niedrig, den Menschen dort geht es jetzt eindeutig an die Substanz. Hungern zum Wohle der Kapitalanleger - davon sind die Griechen nicht mehr allzu weit entfernt.

Wir brauchen daher endlich eine politische Kraft, die den Primat der Politik über die Wirtschaft zurückgewinnt. Und wenn sich die bislang herrschenden Parteien (Sozialisten, Konservative) dazu außerstande sehen, müssen sie von einer neuen politischen Kraft verdrängt werden. Davon sind die Demonstranten in Madrid und Athen allerdings noch weit entfernt. Und es besteht die Gefahr, dass dabei rechtspopulistische Strömungen nach oben gespült werden. Ungarn sollte allen eine Warnung sein. Wie dem auch sei, so wie es zur Zeit ist, kann es jedenfalls kaum weitergehen. Die Industriestaaten schlittern von einer Krise in die nächste, und jede ist tiefer als die zuvor. Das Schreckgespenst des Zusammenbruchs der Finanzmärkte und der öffentlichen Haushalte ist keineswegs gebannt. Im Gegenteil, die Krisenszenarien werden immer bedrohlicher.

"Europa steht ein heißer Sommer bevor." Das mag sein, aber wenn sich die Proteste nicht in einer Änderung der Parteienlandschaft niederschlagen, sind sie auf Dauer wohl nutzlos. Immerhin, sie sind ein Anfang.

----------

[1] Frankfurter Rundschau vom 19.05.2011
[2] Jens Berger, Telepolis vom 24.04.2010