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05. Juni 2011, von Michael Schöfer
Weil's eben billig ist


Die Globalisierung bringt jede Menge Möglichkeiten, Lohnkosten zu sparen. Die Arbeitgeber jubeln. Verständlicherweise. Den hiesigen Arbeitnehmern ist freilich etwas weniger zum Jubeln zumute, sehen sie sich doch inzwischen sogar in sicher geglaubten Bereichen mit der Billiglohnkonkurrenz aus Fernost konfrontiert.

So sollen beispielsweise in Polen 500 Arbeiter aus China am Bau der Autobahn Warschau-Berlin mithelfen. "Die Baufirma China Overseas Engineering Group (Covec) erhielt den Großauftrag – weil das Unternehmen der billigste Anbieter war." [1] Chinesische Arbeiter sind halt konkurrenzlos billig. In Polen macht längst das böse Wort "Lohndumping" die Runde. Übrigens: Die Arbeitslosenquote in Polen betrug im April 12,6 Prozent. [2]

Da müsste der Staat doch etwas dagegen machen, denkt unsereiner. Pustekuchen, er mischt kräftig mit - selbst dort, wo er als Arbeitgeber unmittelbar die Verantwortung trägt. So will die Stadtverwaltung der britischen Stadt Birmingham "etwa hundert Arbeitsplätze im Bereich von Informatik- und Telefondienstleistungen nach Indien verlagern". [3] Indien ist gut, weil englischsprachig. Und noch besser, weil die indischen Arbeitskräfte preiswert zu haben sind. Wenn ein Brite seine Stadtverwaltung anrufen möchte, hat er künftig ein Fräulein in Bangalore an der Strippe. Übrigens: Die Arbeitslosenquote in Birmingham betrug im April 11,6 Prozent. [4]

Zugegeben, das sind - noch - Einzelfälle, aber sie könnten zahlreicher werden. Und wenn ich mir die Arbeitslosenquoten der unter 25-Jährigen in der EU ansehe, frage ich mich ernsthaft, wann uns das Ganze um die Ohren fliegen wird.

Saisonbereinigte Arbeitslosenquoten der unter 25-Jährigen nach EU-Definition
(weicht von den nationalen Angaben aufgrund unterschiedlicher Berechnungsmethoden ab)
Belgien 21,0 Prozent
Bulgarien 27,9 Prozent
Tschechische Republik 17,4 Prozent
Dänemark 12,7 Prozent
Deutschland   7,9 Prozent
Estland* 20,4 Prozent
Irland 31,3 Prozent
Griechenland** 36,1 Prozent
Spanien 44,4 Prozent
Frankreich 20,3 Prozent
Italien 28,5 Prozent
Zypern* 20,3 Prozent
Lettland** 31,0 Prozent
Litauen** 34,1 Prozent
Luxemburg 16,1 Prozent
Ungarn 26,7 Prozent
Malta 10,8 Prozent
Niederlande   6,9 Prozent
Österreich   8,7 Prozent
Polen 25,3 Prozent
Portugal 27,4 Prozent
Rumänien** 23,0 Prozent
Slowenien* 13,6 Prozent
Slowakei 35,6 Prozent
Finnland 20,9 Prozent
Schweden 22,0 Prozent
Großbritannien*** 19,5 Prozent
Eurozone 19,6 Prozent
EU27 20,3 Prozent
[5] Stand: April 2011* = Daten für März 2011 ** = Daten für viertes Quartal 2010 *** = Daten für Februar 2011

Hier wächst in den vielen Ländern eine ganze Generation in Armut und Perspektivlosigkeit heran. Wenn unsere Politiker trotzdem Autobahnen mit Hilfe chinesischer Arbeiter errichten lassen oder Arbeitsplätze nach Indien verlagern, weil's eben billig ist, ist ihnen eigentlich nicht mehr zu helfen. Total hirnrissig: Ökonomisch mag sich das kurzfristig rechnen, aber langfristig sind die gesellschaftlichen Schäden enorm. So ein Kurs ist einfach idiotisch, weil er die Substanz der Demokratie zunichtemacht. Die Menschen werden sich nämlich von einer Staatsform, die ihnen keine ausreichende Lebensgrundlage bietet, enttäuscht abwenden. Am Ende gewinnen, siehe zum Beispiel Ungarn, die Rechtspopulisten. Deren Erfolge und Einfluss auf die Politik in Europa sind doch nicht mehr zu übersehen.

Sagenhafte 122 Billionen Dollar betragen die weltweiten Vermögenswerte (Bargeld, Aktien, Wertpapiere, Fonds) - 20 Billionen Dollar mehr als zum Höhepunkt der Finanzkrise Ende 2008. [6] Allerdings ist, wen wundert's, das Vermögen ungleich verteilt. Bloß zum Vergleich: Damit könnte man die Schulden der öffentlichen Haushalte der Vereinigten Staaten, die im Mai 2011 horrende 14,3 Billionen Dollar betrugen [7], 8,5-mal tilgen. Die Schulden Deutschlands, Ende 2010 2,08 Billionen Euro = nach heutigem Kurs rund 3 Billionen US-Dollar [8], könnten damit 40-mal getilgt werden. Die Defizite der Staaten der Europäischen Union, Ende 2010 9,8 Billionen Euro = nach heutigem Kurs 14,4 Billionen US-Dollar [9], wäre man mit einem Schlag los.

Geld, um die Probleme zu lösen, ist genug da. Es ist nur in den falschen Händen. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer. Ich weiß, das ist nichts Neues, aber niemand - außer den üblichen Verdächtigen (Linke, Gewerkschafter) - scheint sich diesem Trend entgegenzustemmen. Und genau deshalb wird das Ganze, so fürchte ich, übel enden.

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[1] Die Welt-Online vom 27.05.2011
[2] Wallstreet-Online vom 25.05.2011
[3] Stern-Online vom 03.06.2011
[4] Birmingham City Council, Unemployment Key Facts May 2011, PDF-Datei mit 43 kb
[5] Eurostat, Pressemitteilung 76/2011 vom 31. Mai 2011, PDF-Datei mit 322 kb
[6] Spiegel-Online vom 31.05.2011
[7] AFP vom 31.05.2011
[8] Deutsche Bundesbank vom 13.04.2011
[9] Eurostat, Pressemeldung 60/2011 vom 26. April 2011, PDF-Datei mit 889 kb