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26. Juni 2011, von Michael Schöfer
Der Kampf der Landkarten


Inge Höger, Bundestagsabgeordnete der Linken, hat sich öffentlich mit einem Palästinenser-Schal gezeigt, auf dem eine Landkarte Palästinas ohne den Staat Israel zu sehen ist. Unter anderem deshalb wird der Partei neuerdings vorgeworfen, sie habe Antisemiten in ihren Reihen, die das Existenzrecht des jüdischen Staates infrage stellen. Ich vermag nicht zu beurteilen, ob das wirklich stimmt. Einerseits findet man natürlich in allen Parteien Wirrköpfe. Andererseits wird Kritikern der israelischen Politik ohnehin gerne vorgeworfen, antisemitisch zu sein. Das ist gerade hierzulande ein häufig anzutreffendes Totschlagargument und angesichts unserer Geschichte wenig verwunderlich.

Kritik an Israel ist aber nicht generell mit Antisemitismus gleichzusetzen. Über unbestreitbare Fehlentwicklungen den Mantel des Schweigens zu hüllen, hieße falsche Solidarität zeigen. Nicht zuletzt mit Israel selbst. Wenn wir aus unserer Geschichte eines gelernt haben sollten, dann doch dies: Nicht mehr über Missstände zu schweigen und sie ohne Ansehen der Person oder der Nation beim Namen zu nennen. Kaum etwas drückt diese Haltung besser aus als das bekannte Zitat von Martin Niemöller: "Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich nicht protestiert; ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte."

Mit Landkarten hat es eine besondere Bewandtnis, vor allem im Nahen Osten. Dort versucht jeder, seine vermeintlichen Vorrechte auf scheinbare historische Tatsachen zu gründen. Und diese sollen mit Hilfe von Landkarten untermauert werden. Das ist uns nicht unbekannt, denn auch im Nachkriegsdeutschland war ja zum Beispiel die Karte von "Deutschland in den Grenzen von 1937" [Bild-Datei mit 527 kb] lange Zeit populär, obwohl sie einen vollkommen unrealistischen politischen Standpunkt repräsentierte. Übrigens nicht nur bei Rechtsradikalen, in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren war sie vielmehr allgemein gebräuchlich und fand sich in jedem Schulatlas. Landkarten spielen daher in der politischen Auseinandersetzung eine nicht zu unterschätzende propagandistische Rolle.

Aufgrund der zeitlichen Distanz und der Unsicherheit der Quellen sind die historischen Karten der frühen jüdischen Geschichte naturgemäß ungenau. Je nachdem, von wem sie gezeichnet wurden, fallen die Ergebnisse anders aus. Nehmen wir zum Beispiel Landkarten aus der Zeit Sauls, nach biblischen Quellen der erste Herrscher des Königreichs Israel, und seines Nachfolgers David (Karte 1, sie stammt aus dem "Atlas of the Historical Geography of the Holy Land. Smith, George Adam. London, 1915"). [1] Hier ist das Staatsgebiet Israels (rosa) deutlich erkennbar auf die sogenannte Westbank, Galiläa und einen Teil des heutigen Jordaniens begrenzt. Nördlichster Punkt ist der Ort Dan, auf der Höhe von Tyrus, 37 km unterhalb von Sidon im heutigen Libanon. Die Küste am Mittelmeer wird den Philistern zugeschrieben (grün). Dieser Landkarte zufolge beherrschten die Philister die Mittelmeerküste von Gaza bis zum Karmel-Gebirge nahe der nordisraelischen Stadt Akko.


[Karte 1]

Ganz anders scheint das der Historische Atlas von William R. Shepherd aus dem Jahr 1923 gesehen zu haben (Karte 2). [2] Die Philister sind verschwunden, Israel erstreckt sich vom Sinai bis zum Fluss Eufrat im heutigen Syrien. Davon weicht allerdings eine andere Karte ab, die man bei Wikipedia findet (Karte 3). Hier tauchen die Philister plötzlich wieder auf, ihr Einflussbereich beschränkt sich jedoch nur bis knapp über die Stadt Ashdod hinaus (an der Mittelmeerküste etwa auf gleicher Höhe von Jerusalem). [3] Auffallend: Die Mittelmeerküste wird größtenteils dem Königreich Israel zugeschrieben. Und das israelische Staatsgebiet erstreckt sich im Norden bloß bis zur Stadt Sidon (an der Mittelmeerküste etwa auf gleicher Höhe von Damaskus), der viel weiter nördlich liegende Eufrat spielt keine Rolle. Drei unterschiedliche Karten - angeblich alle aus der gleichen Zeit. Kurzum, den Darstellungen sollte man keinen allzu großen Glauben schenken.

 
[Karten 2 und 3]

Ohnedies dürfte es damals in Judäa, was Grenzverschiebungen und Eroberungen angeht, hin und her gegangen sein. Es war eine ziemlich kriegerische Zeit, viel hat sich seitdem also nicht geändert. Um 600 v. Chr. beherrschte dann Nebukadnezar im Neubabylonischen Reich den Nahen Osten. 100 Jahre danach dominierten die Perser, die 333 v. Chr. von den Griechen unter Alexander dem Großen abgelöst wurden, denen wiederum 63 v. Chr. die Römer folgten. Ostrom, auch unter dem Namen Byzantinisches Reich geläufig, hielt sich in der Region bis 640 n. Chr. und musste der arabisch-islamischen Expansion weichen. 1516 übernahmen in Palästina die Türken die Herrschaft. Nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches erhielten bekanntlich die Briten 1920 das Völkerbundmandat, das sie 1948 wieder aufgaben. Am 14. Mai 1948 rief David Ben Gurion unter ausdrücklicher Berufung auf den UN-Teilungsplan von 1947 und kraft des "natürlichen und historischen Rechtes" der Juden die Unabhängigkeit des Staates Israel aus. So ist in groben Zügen die wechselnde Herrschaft in Palästina beschrieben. Kurioserweise ist die Gründung des modernen Israel ohne die Untaten Hitlers und den Holocaust kaum denkbar.

Zurück zu den historischen Landkarten aus biblischer Zeit: Die Kartenzeichner haben wohl das verbreitet, was ihnen - warum auch immer - ideologisch in den Kram passte. Fakt ist: Die Quellenlage aus dieser Zeit ist äußerst dürftig und überdies höchst fragwürdig. Stichhaltige Belege sind rar. Dessen ungeachtet fabulieren Israelis der ultranationalen Bewegung auf der Grundlage dubioser alttestamentarischer Ansprüche von einem "Großisrael", das "die Einverleibung der Gebiete Westjordanland, Ostjerusalem, Gazastreifen und Golanhöhen in das israelische Staatsgebiet" beinhaltet. Diese Sicht zeigt Karte 4. [4]

Die aus der Perspektive radikaler Araber wünschenswerte Karte des Nahen Osten sieht ganz Palästina unter palästinensischer Herrschaft und ist mit dem angestrebten Staatsgebiet der radikalen Israelis fast identisch. Nur eben mit dem Unterschied, dass dort die Palästinenser regieren (Karte 5). Die einzige territoriale Abweichung ist bei den Golan-Höhen zu finden, denn aus arabischer Sicht gehört dieses Gebiet - sicherlich nicht zu Unrecht - zu Syrien (Karte 6). Was freilich in einem Palästina, in dem die Hamas regieren würde, mit den Israelis geschehen mag, kann man sich leicht ausmalen. Einen kleinen Einblick verschafft vielleicht "Es wird Zeit, sich mit der Hamas zu beschäftigen". Der Terminus "Völkermord" wäre dem durchaus angemessen. Jedenfalls wird eine derartige Entwicklung, sollte die Hamas je siegen, von vielen befürchtet. Dies erklärt, warum man auf den eingangs erwähnten Schal von Inge Höger so sensibel reagiert hat.

   
[Karten 4, 5 und 6]

Realisten, die den Gordischen Knoten des Nahen Ostens mit seinen ungelösten territorialen Fragen (Karte 7) entwirren wollen, haben es schwer. Wohlgemerkt, auf beiden Seiten. An einer Zweistaatenlösung führt m.E. kein Weg vorbei. Das bedeutet für die Araber zweifellos die Anerkennung des Existenzrechts Israels, was die Hamas indes kategorisch ablehnt, und gleichzeitig den israelischen Rückzug aus der Westbank, inklusive des Wegzugs eines Großteils der dort lebenden 300.000 jüdischen Siedler (Karte 8). [5] Letzteres fällt den Israelis besonders schwer, weil - das ist unter Historikern unstreitig - ausgerechnet das Westjordanland (Judäa und Samaria), im Gegensatz zum völkerrechtlich anerkannten Staatsgebiet des modernen Israel, das Kerngebiet des biblischen Israel darstellt. Für national-religiöse Juden gehört die Westbank somit zum "Gelobten Land", das Gott Abrahams Nachkommen für alle Zeiten versprach: "Hebe dein Augen auf und siehe von der Stätte an, da du wohnst, gegen Mittag, gegen Morgen und gegen Abend. Denn alles Land, das du siehst, will ich dir geben und deinem Samen ewiglich." [6] Mit anderen Worten: Das Gelobte Land ist derzeit überwiegend in Händen der Palästinenser. Daraus speisen sich die Motive der israelischen Siedlerbewegung, Judäa und Samaria peu à peu in Besitz zu nehmen. Kurz gesagt, es streiten sich zwei Völker um das gleiche Land. Jedes mit historisch begründeten Ansprüchen, und jedes mit dem unbestreitbaren Recht, in der angestammten Heimat leben zu dürfen, die aber zu allem Unglück nur schwer miteinander auskommen.

 
[Karten 7 und 8]

Wer in der Öffentlichkeit mit einer Landkarte auftritt, auf der Israel getilgt ist, sticht damit unvermeidlich in ein Wespennest. Zumal wenn es eine Bundestagsabgeordnete tut. Im umgekehrten Fall, man stelle sich einmal vor, ein Bundestagsabgeordneter der Union würde sich mit einer Karte zeigen, auf der die Palästinenser nicht mehr vorkämen, wäre das Geschrei gewiss genauso groß. Fairerweise sollte man erwähnen, dass Frau Höger den Fall in einer Presseerklärung erläutert hat: Sie war "als Gast zu der 9. Konferenz der Palästinenser in Europa eingeladen und hat dort ein Grußwort gehalten. (…) Auf der Bühne wurde allen Gästen ein palästinensischer Schal umgelegt." Und sie "hätte es als unhöflich empfunden, in dieser Situation das Tragen dieses Schals abzulehnen. Der Schal zeigte die Orte in Palästina, aus denen vor der Ausrufung des Staates Israel Palästinenserinnen und Palästinenser vertrieben wurden." [7]

Vielleicht war die Linke-Abgeordnete wirklich so naiv. Doch eigentlich müsste ihr von vornherein klar gewesen sein, dass sie sich bei einer solchen Konferenz gewissermaßen auf ein diplomatisches Minenfeld begibt. Landkarten haben nämlich im Nahost-Konflikt einen enormen Symbolwert. Wie hoch, zeigt die Website der "Palestinian Diplomatic Mission UK", der offiziellen Vertretung der Palästinensischen Autonomiebehörde in Großbritannien, welche eine Karte Palästinas enthält, auf der Israel ebenfalls inexistent ist. Da fragt man sich zu Recht, warum. Die auf der Website der Generaldelegation Palästinas in der Bundesrepublik Deutschland gezeigte Landkarte ist hingegen politisch korrekt.

Der Krieg der Landkarten wird also weitergehen, denn ein Friedensvertrag zwischen Israel und den Palästinensern liegt noch in weiter Ferne.

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[1] University of Texas, Austin/USA, Bild mit 568 kb ist public domain
[2] University of Texas, Austin/USA, Bild mit 780 kb ist public domain
[3] Wikipedia, United Kingdom of Israel, around the time of David and Saul (11th century B.C), Bild steht unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported-Lizenz, Urheber: Roberto Reggi
[4] Quelle der Ursprungskarte: Wikipedia, Bild steht unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 2.5 Generic-Lizenz, Urheber: Ling Nut
[5] Wikipedia, West Bank & Gaza Map 2007, Bild ist public domain
[6] Lutherbibel, Kapitel 13, 14f
[7] Website von Inge Höger, Gegendarstellung zu dem Artikel "Antisemiten in der Linkspartei" vom 18.05.2011 in der Frankfurter Rundschau