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16. Juli 2011, von Michael Schöfer
Manchmal passiert das Unerwartete


Stellen Sie sich vor, drei Kleinstaaten vom Format Andorras (85.015 Einwohner), Liechtensteins (36.157 Einwohner) und Monacos (32.965 Einwohner) würden der Europäischen Union (501 Mio. Einwohner) und den Vereinigten Staaten (311 Mio. Einwohner) den Krieg erklären - man würde in den Hauptstädten der "bedrohten" Staaten bestenfalls darüber nachgrübeln, ob Lachkrämpfe neuerdings tatsächlich unter das Kriegswaffenkontrollgesetz fallen. Doch wenn die drei Ratingagenturen Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch der Eurozone und den USA den Krieg erklären, schlottern den Regierungen vor Angst die Knie. Die Waffe der Ratingagenturen ist das Verdikt "Zahlungsausfall", und dieses Kainsmal ist unter Umständen viel zerstörerischer als eine Wasserstoffbombe, es könnte nämlich leicht die ganze Weltwirtschaft in den Abgrund reißen.

Sollte die Eurozone platzen und die Vereinigten Staaten zahlungsunfähig werden, gehen möglicherweise rund um den Globus Staaten, Banken und Unternehmen pleite. Nicht einmal China ist sicher. Zwar verfügt die Volksrepublik inzwischen über Devisenreserven in Höhe von 3,2 Billionen US-Dollar, Schätzungen zufolge sind davon jedoch ungefähr 70 Prozent in US-Schatzbriefen angelegt. Peking ist der größte Gläubiger Washingtons. Hier kommt der Spruch des Ölmilliardärs Jean Paul Getty (1892-1976) ins Spiel: "Wenn du der Bank 100 Dollar schuldest, dann hast du ein Problem. Wenn du der Bank 100 Millionen Dollar schuldest, dann hat die Bank ein Problem." Ein Zahlungsausfall Amerikas dürfte demzufolge sogar im prosperierenden "Reich der Mitte" zu massiven Problemen führen.

Natürlich sind die Herabstufungen der Ratingagenturen und die Drohung mit dem "D" (für Zahlungsausfall) unverantwortlich. Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch haben vor der Finanzkrise 2007 nicht nur vielen strukturierten Wertpapieren fälschlicherweise höchste Bonität bescheinigt (Triple A), sie verschärfen durch ihr prozyklisches Handeln auch die gegenwärtige Krise. Denn nicht die absolute Schuldenhöhe der Schuldner ist das eigentliche Problem, sondern die hohen Zinsforderungen der Kapitalgeber, die eine Refinanzierung der Staatsschuld unmöglich machen. Die Abwertungen der Ratingagenturen wirken gewissermaßen wie eine Self-fulfilling prophecy: Weil Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch Zweifel daran äußern, dass die Schuldner weiterhin ihren Zahlungsverpflichtungen nachkommen, steigen die Zinsforderungen der Anleger ins Astronomische. Und das verhindert wiederum die geordnete Refinanzierung auf den Kapitalmärkten, die bei moderaten Zinssätzen durchaus realisierbar gewesen wäre. Konsequenz: Griechenland kann seinen Zahlungsverpflichtungen nicht mehr aus eigener Kraft nachkommen. Portugal dito. Spanien und Italien vielleicht ebenfalls.

Andererseits darf man die Schuld nicht bloß allein bei den Ratingagenturen suchen. Die Staatsverschuldung ist teilweise wirklich aus dem Ruder gelaufen. Die Betonung liegt auf "teilweise". Griechenland hat fraglos seit Jahren unvertretbar hohe Schuldenberge angehäuft. Doch konnte etwa Irland bis 2007 in fast jedem Jahr Haushaltsüberschüsse erwirtschaften. Die Iren kamen nur in die Bredouille, weil ihre Regierung den Finanzsektor mit einer hundertprozentigen Staatsgarantie gerettet hat. Das Defizit in der Eurozone lag im gleichen Jahr bei erträglichen 0,7 Prozent. [1] Die Hauptschuld an der Krise trägt also der Finanzsektor.

Nicht weniger Schuld tragen die Politiker, die es nach wie vor nicht geschafft haben, den Finanzsektor an den Kosten des durch ihn verursachten Crashs zu beteiligen. Ich habe zuweilen das Gefühl, dass die Politik total überfordert ist und den Ernst der Lage einfach nicht erkennen will. Warum können sich die Verantwortlichen nicht rasch auf die Einführung einer Finanztransaktionssteuer einigen? Deren Aufkommen könnte man in die Sanierung der Schuldnerstaaten stecken. Peu à peu würden auf diese Weise Banken und Spekulanten ihren Obolus zur der Rettung ganzer Volkswirtschaften entrichten. Übrigens ohne dabei den eigenen Kollaps zu riskieren. Oder warum ist es so schwer, nationale Egoismen hintanzustellen und ein europäisches Finanzministerium einzuführen? Das Haushaltsrecht der nationalen Parlamente würde auf ein niedrigeres Niveau, ähnlich dem der deutschen Bundesländer, zurückgestuft. Na und? Wo liegt, außer im Nationalstolz der beteiligten Staaten, das Problem? Und warum ist eine Transferunion, analog zum Bund/Länder-Finanzausgleich, absolut tabu? Die Krise ist zu meistern, oft fehlt nur die Unterschrift unter ein Gesetz. Offenbar riskieren die Politiker lieber das Auseinanderbrechen der Eurozone und die Verarmung ganzer Völker.

Das, was momentan in den USA geschieht, ist haarsträubend. Alle Nichtamerikaner sitzen vor dem Fernseher und klopfen sich gegenseitig beruhigend auf die Schulter: "Die werden es schon rechtzeitig vor dem 2. August (der Tag, an dem Amerika die Staatspleite droht) hinbekommen. Die müssen es einfach hinbekommen, alles andere wäre hirnrissig." Doch das Weiße Haus und der Kongress pokern und pokern und pokern. Am Ende könnte es passieren, dass wir gerade deshalb in Kürze erneut in eine globale Wirtschaftskrise stürzen, die niemand gewollt hat und deren Größe womöglich jeden bislang bekannten Rahmen sprengt. Manchmal passiert eben das Unerwartete. Leider. Die Tea-Party-geplagten Republikaner zeigen ein Ausmaß an Inkompetenz und Verantwortungslosigkeit, da fehlen einem schlicht die Worte. Gibt es in den USA nur noch ideologisch verbohrte Vollidioten mit dem ökonomischen Sachverstand auf dem Niveau eines Viertklässlers? Wahrscheinlich (Paul Krugman möge mir verzeihen). Und das Schlimme ist: Man kann dabei nur hilflos zusehen, schützen kann man sich vor den fatalen Folgen der politischen Torheit nicht.

Okay, ich könnte mein bescheidenes Sparkonto plündern und 100 Paar Schuhe kaufen, die staple ich dann Zuhause in der Abstellkammer. Das reicht bestimmt für die nächsten 50 Jahre, voraussichtlich werde ich gar nicht so alt. Oder ich buche eine vierwöchige Reise auf die Malediven. First Class, versteht sich. Die Erinnerung an den Luxusurlaub kann mir selbst Uncle Sam nicht mehr rauben, höchstens in fortgeschrittenem Alter ein gewisser Herr Alzheimer. Oder ich kaufe mir palettenweise Dosennahrung, die nächsten fünf Jahre wäre wenigstens mein Mittagessen gesichert. Wie auch immer, ich sollte jedenfalls bei meiner Bank Tabula rasa machen, denn wo nichts mehr drauf ist, kann einem sogar eine Bankpleite nichts mehr wegnehmen. Das Paradoxe ist: Wenn alle so handeln, gehen die Banken ebenfalls pleite, völlig unabhängig davon was die Amis machen. Wie gesagt, manchmal passiert das Unerwartete.

Zugegeben, das war nicht ernst gemeint. Aber vielleicht noch das Vernünftigste, was man in der verfahrenen Lage überhaupt tun kann. Die Welt ist zweifellos verrückt. Und nichts charakterisiert ihren Zustand besser als der Satz von Voltaire: "Wenn sie einen Schweizer Bankier aus dem Fenster springen sehen, springen sie hinterher. Es gibt bestimmt etwas zu verdienen." In diesem Sinne: guten Flug.

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[1] Wikipedia, Defizit / Überschuss Europäischer Staaten in % des BIP