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17. Juli 2011, von Michael Schöfer
Mit der Wahrheit auf Kriegsfuß


Tanja Gönner (CDU), die einstige Umwelt- und Verkehrsministerin der abgewählten schwarz-gelben Landesregierung von Baden-Württemberg, nimmt mit Interesse zur Kenntnis, dass die neue grün-rote Landesregierung Mitarbeiter damit beschäftigt, unterschiedliche Aktenlagen aus der Vergangenheit zurückzuverfolgen. Sie habe das im März 2011, als sie die Verkehrsabteilung vom Innenministerium übernahm, nicht als ihre Aufgabe angesehen. Und sie verstehe die aktuelle Aufregung um die veröffentlichten Akten gar nicht. [1] Ob ihr beim Interview mit der FR die Schamesröte ins Gesicht stieg, ist nicht überliefert. Immerhin wäre das angemessen gewesen, denn die CDU-geführte Landesregierung ist in Bezug auf das Bahnprojekt "Stuttgart 21" beim Lügen ertappt worden. Und wodurch? Ausgerechnet durch die besagten Akten aus der Vergangenheit, die Tanja Gönner wohl am liebsten in den Archiven verstauben gesehen hätte.

Gönner ist gelernte Juristin (erstes und zweites juristisches Staatsexamen), von daher dürfte ihr das Suchen in alten Aktenbeständen eigentlich nicht fremd sein. Im Gerichtssaal wird nämlich recht viel aus alten Akten zitiert, sie gelten gemeinhin als gutes Beweismittel. Allem, was schriftlich fixiert ist, kommt ein hoher Beweiswert zu. Sofern die Unterlagen echt sind, versteht sich. Mündliche Aussagen hingegen sind nur schwer objektiv nachvollziehbar, denn bei ihnen behindert schon allein das subjektive Element die Wahrheitsfindung. Von vorsätzlichen Lügen ganz zu schweigen. Nach Akten zu suchen, ist folglich für jeden, der an der Wahrheit interessiert ist, Pflicht.

"Stuttgart 21" sei eines der "am besten und umfassendsten geplanten Projekte" des Unternehmens. Und der Kostenrahmen werde eingehalten, verkündete die Bahn immer wieder auf Neue. Wer daran zweifelte und dem Projekt massive Kostensteigerungen unterstellte, bekam etwa vom ehemaligen Innenminister Heribert Rech (CDU) "gravierende handwerkliche Fehler" vorgeworfen. Die Aussagen über Kostensteigerungen seien haltlos, behauptete er. [2] "Wir haben keinen Grund zu der Annahme, dass unsere Kostenschätzung in der Umsetzung nicht eingehalten werden kann", versicherte der damalige Ministerpräsident Günther Oettinger. Aha, keinen Grund. Wirklich nicht?

Die aktuellen Kostenangaben für "Stuttgart 21" seien nach wie vor zu niedrig. Und Dokumente würden inzwischen beweisen, dass die Bahn hohe Mehrkosten über viele Jahre teilweise sogar mit Vorsatz verschwiegen habe. Das sagen nicht die Gegner der Tieferlegung, sondern der Bundesrechnungshof, der damit eine frühere Einschätzung erneut bestätigt. [3] Jetzt kommen die Dokumente ins Spiel, deren Veröffentlichung Tanja Gönner einfach nicht verstehen will: "Ein internes Dokument belegt, dass die Deutsche Bahn (DB) vor der Unterzeichnung des Finanzierungsvertrags für Stuttgart 21 im Frühjahr 2009 eine Kostenexplosion von mehr als 900 Millionen Euro bei den geplanten Tunneln verheimlicht hat." [4] Und eine vollständige, bisher unveröffentlichte Kostenanalyse vom 24. November 2009 mache der Bahn schwere Vorwürfe. Pikant: Die Kostenanalyse stammt aus dem damals CDU-geführten Verkehrsministerium und wurde wiederum von der Landesregierung verheimlicht. "Der Inhalt des Papiers ist brisant, weil es - wenige Wochen vor den politischen Beschlüssen für den Bau - 'den aktuellen Kostenstand von Stuttgart 21' ungeschönt und in detaillierter Form beschreibt."

Die "gravierenden handwerklichen Fehler" lagen wohl eher auf Seiten der CDU-Politiker. Sie wussten offenbar über die drohenden Kostensteigerungen Bescheid, haben aber das Projekt unter Verwendung von geschönten Zahlen trotzdem durchgewunken. Manipulationen à la Griechenland. Im Allgemeinen nennt man so etwas eine faustdicke Lüge. Das, was man früher bloß geahnt hatte, aber mangels Unterlagen nicht beweisen konnte, wird jetzt deutlich: "Stuttgart 21" sollte auf jeden Fall - koste es, was es wolle - durchgezogen werden. Dreist belog man die Öffentlichkeit und warf den Kritikern zu allem Überfluss auch noch Inkompetenz vor. Die Argumentationslinie der Projektbefürworter fällt nun jedoch wie ein Kartenhaus in sich zusammen, das Bahnprojekt entpuppt sich als ein widerliches Lügengebäude. Und tatsächlich, wie stets von den Gegnern beklagt, als sündhaft teures "Milliardengrab".

Es ist gut, dass Schwarz-Gelb am 27. März abgewählt wurde. Wer derart mit der Wahrheit auf Kriegsfuß steht, sollte kein öffentliches Amt bekleiden.

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[1] Frankfurter Rundschau vom 16.07.2011
[2] Landesportal Baden-Württemberg vom 23.07.2008
[3] Frankfurter Rundschau vom 15.07.2011
[4] Frankfurter Rundschau vom 16.07.2011