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22. August 2011, von Michael Schöfer
Nichts entsteht im luftleeren Raum


Die Krawalle in England haben zweifellos eine gesellschaftliche Grundlage, denn nichts entsteht einfach so im luftleeren Raum. Das soll nichts rechtfertigen oder beschönigen, sondern vielmehr zur Ursachenforschung beitragen. Ob die Null-Toleranz-Haltung des britischen Premierministers David Cameron diesbezüglich hilfreich ist, darf bezweifelt werden. Denn eines lässt Cameron bei alledem vermissen: Nachdenklichkeit. Aber nur wer über die Ursachen sozialer Verwerfungen nachdenkt, kann auch deren Folgen in den Griff bekommen. Eine gute Sozialpolitik ist nämlich immer noch die beste Kriminalprävention.

Doch gerade hier ist einiges faul im Staate Großbritannien. Die einstige industrielle Vormacht hat einen beispiellosen Niedergang des produzierenden Gewerbes durchgemacht. Nach Angaben der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) trug die Industrie 1970 noch 36,3 Prozent zum britischen Bruttoinlandsprodukt bei, 2008 waren es bloß noch 16,2 Prozent. [1] Tendenz: weiter fallend. Der Finanzsektor (Stichwort: Finanzplatz London) trug hingegen 32,7 Prozent dazu bei - das ist freilich genau der Sektor, der uns die jetzige Wirtschaftskrise und auf der Insel drastische Kürzungen im Sozialbereich beschert hat.

Im ersten Quartal 2011 waren dort 19,9 Prozent der Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren arbeitslos. [2] Tendenz: weiter steigend. Es ist wie überall: Angemessen bezahlte und unbefristete Vollzeitjobs sind rar. Bei der Unterschicht ist der gesellschaftliche Zerfall unübersehbar. Aber das Schlimme ist: Die Unterschicht wird größer, während die Mittelschicht zunehmend erodiert.

Dass solche Krawalle auch in Deutschland möglich sind, kann niemand mit Gewissheit behaupten oder verneinen. Doch wenn etwa das Finanzsystem kollabiert, und die Gefahr ist derzeit wohl kaum von der Hand zu weisen, wird ein neues Kapitel der gesellschaftlichen Entwicklung aufgeschlagen. Vergangene Wirtschaftskrisen zogen meist tiefgreifende Veränderungen nach sich, die in den zwanziger und dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat uns beispielsweise den Nationalsozialismus beschert. Ohne die Verarmung der Mittelschicht in den Wirren nach dem ersten Weltkrieg (Hyperinflation, hohe Arbeitslosigkeit) wäre uns das vermutlich erspart geblieben. Insofern hängt auch in Deutschland der gesellschaftliche Friede eng mit der Bewältigung der jetzigen Wirtschaftskrise zusammen. Hinzugefügt werden muss: der gerechten Bewältigung.

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[1] 1970: OECD, Factbook 2009: Economic, Environmental and Social Statistics, Excel-Datei mit 64 kb; 2008: OECD, National Accounts at a Glance 2009, 14. Value added, PDF-Datei mit 114 kb
[2] Der Standard vom 11.08.2011