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| Impressum 12. November 2011, von Michael Schöfer Sollen wir das wirklich glauben? Politiker, wen wundert's, sagen nicht immer die Wahrheit. So versicherte beispielsweise Bill Clinton dem amerikanischen Volk: "I did not have sexual relations with that woman, Miss Lewinsky." (Ich hatte keine sexuelle Beziehung mit dieser Frau, Fräulein Lewinsky.) Darüber, ob Fellatio im Oval Office als sexuelle Beziehung zu werten sei, waren die meisten Amerikaner definitiv anderer Meinung. Was dazu wohl Dominique Strauss-Kahn gesagt hat? Das, liebe Leser, wurde uns von der Geschichtsschreibung leider nicht überliefert. Politiker-Lügen sind keineswegs ungewöhnlich. Clintons Vorgänger, George Herbert Walker Bush, versprach im Präsidentschaftswahlkampf: "Read my lips: no new taxes." (Lest es von meinen Lippen ab: Keine neuen Steuern.) Nur, um nach der Wahl doch die Steuern anzuheben. Sein Filius setzte später die Familientradition fort: Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen, George W. Bushs offizieller Kriegsgrund, wurden bekanntlich nie gefunden. Mehrfach hat Syriens Präsident Baschar al-Assad ein Ende der Gewalt zugesagt, dennoch werden weiterhin Oppositionelle ermordet und gefoltert. Frankreichs Staatsoberhaupt Nicolas Sarkozy, dem nachgesagt wird, er wisse aus Erfahrung, dass Wahlversprechen immer nur für jene verpflichtend sind, die daran glauben, nannte kürzlich Israels Premierminister Benjamin Netanjahu einen Lügner. Politiker halten von Politikern offenbar selbst nicht allzu viel. Trotzdem sollen wir jetzt glauben, dass der Iran die Atombombe baut. An der Aufrichtigkeit Mahmud Ahmadinedschads darf zu Recht gezweifelt werden, aber schließlich war auch Saddam Hussein ein finsterer Zeitgenosse, gleichwohl besaß er keine Massenvernichtungswaffen. Die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) wirft Teheran in einem Bericht vor, das Land befinde sich auf dem Weg zur Atombombe. "Die IAEA sei 'zunehmend besorgt' über die 'mögliche Existenz verborgener Nuklear- Aktivitäten'", heißt es darin. [1] Stichhaltige Beweise, den "rauchenden Colt", hat die IAEO allerdings nicht vorgelegt. Angeblich denkt Benjamin Netanjahu - ja, das ist genau der, den Sarkozy gerne als Lügner bezeichnet - über einen Militärschlag nach. Wem glauben wir nun? Der IAEO, die der Teheraner Führung noch 2008 bescheinigte, "sie habe den Verdacht ausgeräumt, mit ihrem Atomprogramm militärische Ziele zu verfolgen"? [2] Mahmud Ahmadinedschad, der die iranische Opposition gnadenlos niederknüppeln lässt, gemeinhin mit antisemitischen Tiraden auf sich aufmerksam macht und zweifellos wenig Skrupel besitzt, notfalls über Leichen zu gehen? Oder doch Benjamin Netanjahu? Die Politiker machen es einem wirklich nicht leicht. Und weil Politiker-Lügen eine lange Tradition haben (Niccolò Machiavelli: "Jeder sieht, was Du scheinst. Nur wenige fühlen, wie Du bist."), können wir ihnen immer weniger glauben. Erst laufen sie mit Muammar al Gaddafi Hand in Hand durch den Wüstensand, bloß um später - zum passenden Zeitpunkt, versteht sich - überrascht seine Blutrünstigkeit zu "entdecken". Selbstverständlich weiß auch ich nicht, woran Teheran arbeitet. Aber aufgrund von Vermutungen, und um mehr scheint es sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zu handeln, beginnt man keinen Krieg. Nicht nur, weil die Folgen unabsehbar wären, sondern weil wir, was solche Aussagen angeht, gebrannte Kinder sind. Die Verlogenheit fällt also gewissermaßen auf die Politiker selbst zurück, niemand kauft ihnen mehr etwas ab. "Wer ständig lügt, dem glaubt man nicht, auch wenn er mal die Wahrheit spricht." Das kommt mir irgendwie bekannt vor... ---------- [1] Frankfurter Rundschau vom 10.11.2011 [2] Frankfurter Rundschau, a.a.O. |