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23. November 2011, von Michael Schöfer
Das muss man nicht verstehen, aber so ist es


In Europa können sich die Politiker bloß auf vermutlich wirkungslose Maßnahmen zur Eindämmung der Finanz- und Wirtschaftskrise einigen. Mittlerweile hat selbst Deutschland Probleme, seine Schulden am Kapitalmarkt zu refinanzieren. "Der Bund blieb am Mittwoch auf einem großen Teil der angebotenen Papiere mit zehnjähriger Laufzeit sitzen: Sechs Milliarden Euro wurden den Anlegern angeboten, sie wollten aber nicht einmal vier Milliarden haben. Analysten sprachen von einem Desaster, Euro und Aktienmärkte gerieten unter starken Druck." [1] Das muss man nicht verstehen, aber so ist es.

In Griechenland spart man zwar die Wirtschaft zugrunde, kann aber dadurch die Schuldenquote nicht reduzieren. Im Gegenteil, sie steigt weiter an. Die Zeche zahlen die Bürger, die u.a. Kürzungen bei den Gehältern und Renten hinnehmen müssen. Portugal, Italien und Spanien gehen bereits den gleichen Weg. Fast überall grassiert die Arbeitslosigkeit, insbesondere junge Menschen sind von ihr betroffen, eine verlorene Generation wächst heran.

Der eigentliche Verursacher der Krise, die Finanzindustrie, bleibt dagegen weitgehend ungeschoren. Das muss man nicht verstehen, aber so ist es. In Athen wurde ein überraschend angekündigtes Referendum gleich wieder abgesagt, stattdessen regiert dort ein nicht vom Volk gewählter Wirtschaftswissenschaftler. In Italien besteht sogar die ganze Regierung aus nichtgewählten "Experten", an ihrer Spitze ebenfalls ein Wirtschaftsprofessor. Die Demokratien bieten momentan ein ziemlich trauriges Bild: Dem demos kommt schleichend die kratie abhanden.

In den USA hat man in den letzten Monaten über die europäische Selbstblockade nur noch verständnislos den Kopf geschüttelt. Aber die amerikanische Politik ist ebenfalls gelähmt, Demokraten und Republikanern können sich einfach nicht auf ein Programm zur Reduzierung der Staatsschulden einigen. Kommt keine Einigung zustande, greifen ab 2013 automatische Kürzungen. Setzt sich bei den Präsidentschafts- und Kongresswahlen im November 2012 auch noch die Tea Party durch, könnte es in den USA viel dunkler werden. Bei der Tea Party spielt nämlich der Libertarismus eine dominierende Rolle, der eine Abschaffung oder zumindest starke Beschränkung des Staates fordert. Amerika würde dadurch endgültig als politische und ökonomische Weltmacht abdanken.

Nun erntet man allerorten die Folgen von jahrzehntelang praktiziertem Neoliberalismus. Und es ist geradezu paradox: In einigen der bislang in gesellschaftlicher Erstarrung dahinsiechenden arabischen Staaten brechen die alten Strukturen zusammen, es besteht neuerdings immerhin die Hoffnung auf eine allmähliche Demokratisierung. In den westlichen Demokratien hingegen zieht sich die Schlinge des Finanzkapitals immer enger um den Hals der Politiker, deren Entscheidungen bloß noch vom Wohlwollen der "Märkte" abzuhängen scheinen. Ratingagenturen üben offenbar mehr Macht aus als der Wähler. Wohin wird das noch führen? Ich weiß es nicht, aber die Aussichten sind alles andere als ermutigend. Es gibt wenigstens einen Trost: Über den Zusammenbruch der Maya-Kultur gibt es bis dato nur Spekulationen, der Kollaps des Westens wird dagegen fein säuberlich in den Medien dokumentiert. Unsere Nachfahren müssen also gar nicht lange darüber herumrätseln (höchstens, warum wir so dumm waren, es so weit kommen zu lassen).

Ach, Verzeihung, liebe Leser. Ich weiß, ich sollte Ihnen Mut machen. Fragt sich nur wie und mit was. Leider geht mir diesbezüglich die Munition aus. Das muss man nicht verstehen, aber so ist es.

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[1] Reuters vom 23.11.2011