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| Impressum 01. Januar 2012, von Michael Schöfer Unbegreifliche Dummheit Was soll man dazu sagen: Der Mensch, einst herabgestiegen von den Bäumen, ist auf Wachstum angelegt. Das mag bis vor wenigen hundert Jahren vielleicht noch sinnvoll gewesen sein, ist aber spätestens seit Beginn der Industrialisierung eher schädlich. Eine keineswegs neue Erkenntnis. Dennoch kann der Mensch nicht anders, denn ohne Wachstum bricht seine Wirtschaft zusammen. Meint er zumindest. Deshalb häuft er nach wie vor Güter an und verändert auf diese Weise nachhaltig das Gesicht der Erde. Seinem Primatenhirn ist die Banane in der Hand (ein Synonym für den BMW in der Garage) wesentlich wichtiger als jede rationale Erkenntnis: "2011 gingen laut WWF weltweit rund 13 Millionen Hektar Wald verloren – 36 Fußballfelder pro Minute. Damit sei das Tempo der Abholzung zwar leicht gesunken, dennoch gefährde der Waldverlust den Fortbestand von 80 Prozent der Säugetier- und Vogelarten und sei die größte Bedrohung der Artenvielfalt." [1] Grenzen des Wachstums? Leider nur theoretisch, praktisch vorerst nicht. Beispiel Klimawandel. Eigentlich müssten die Fakten jeden alarmieren: Die anthropogenen CO2-Emissionen sind allein seit 1965 um 182,3 Prozent gestiegen - Tendenz weiterhin stark steigend. [2] Ebenso dramatisch wuchs der CO2-Anteil in der Erdatmosphäre. Die auf Mauna Loa (Hawaii, USA) gemessenen Werte haben im gleichen Zeitraum um 22 Prozent zugenommen - Tendenz ebenfalls weiterhin stark steigend. [3]
Es ist ja nicht so, dass dem von den Bäumen herabgestiegenen Homo sapiens die schlimmen Folgen seines Handelns nicht bewusst wären, aber er sieht sich offenbar außerstande, sein Verhalten entsprechend anzupassen. Deutschland gilt als Klimavorreiter, doch die "meisten Deutschen haben ihren persönlichen Lebensstil angesichts des Klimawandels nicht verändert. In einer Forsa-Umfrage für das Hamburger Magazin 'Stern' erklärten zwei Drittel, sie täten nicht mehr für den Klimaschutz als früher. Nur etwa ein Drittel der Befragten sagte, sie achteten auf ihre eigenen CO2-Emissionen." [4] Und auf der Klimakonferenz in Durban (Südafrika), die zwischen dem 28. November und dem 11. Dezember 2011 stattfand, konnten sich die Nationen abermals nicht auf einen verbindlichen Vertrag zur Reduzierung der Treibhausgase verständigen. Die Bremser: Hauptsächlich China und die Vereinigten Staaten, beide sind zugleich die größten CO2-Emittenten (China 2010: 8332,5 Mio. t, USA 2010: 6144,9 Mio. t) [5] Dabei ist das alles eine unbegreifliche Dummheit. Der Homo sapiens ist anscheinend unfähig, in langen Zeiträumen zu denken. Jedenfalls haben die befürchteten Langfristwirkungen kaum Einfluss auf sein eigenes Handeln. Steigt der CO2-Anteil in der Erdatmosphäre weiter an, ist zum Beispiel das Abschmelzen des Eispanzers auf Grönland nahezu unausweichlich. Gewiss, das Ganze dauert gemessen an der Lebenszeit eines einzelnen Menschen fast ewig, bis zum völligen Verschwinden der grönländischen Eismassen werden vermutlich einige Jahrhunderte ins Land gehen. Gleichwohl fragt man sich, warum die katastrophalen Folgen der jetzigen Generation mehrheitlich gleichgültig sind. Gilt hier wirklich der Spruch "Nach mir die Sintflut"? Heute ein bisschen auf Lustgewinn zu verzichten, ohne dafür später die Ernte einfahren zu können, ist vermutlich bereits zu viel verlangt. Wenn wir böse überrascht werden, geht es allerdings schneller als gedacht. So schmelzen die Eismassen in der Westantarktis unter Umständen nicht vergleichsweise langsam ab, sie könnten vielmehr aufgrund der Klimaerwärmung binnen kurzem vom antarktischen Kontinent ins Meer abrutschen. Konsequenz: Der Meeresspiegel stiege abrupt um mehrere Meter. Schauen wir uns die konkreten Folgen an: "Das vollständige Abschmelzen des Grönländischen Eisschildes führt zu einem Meeresspiegelanstieg von 7,2 m." [6] Auf der Website "Flood maps" kann jeder selbst nachvollziehen, welche Auswirkungen der Anstieg des Meeresspiegels um 7 Meter hätte. In China stünde dann etwa die Metropole Shanghai (4 Meter über dem heutigen Meeresspiegel) unter Wasser, in den USA ein Teil von New York City und in Europa fast die gesamten Niederlande. Der Meeresspiegel ist zwar schon in der Vergangenheit mehrfach stark gefallen oder gestiegen, nur lebt der Mensch heute an den Küsten nicht mehr in leicht verlegbaren Dörfern, sondern in Millionenstädten mit Häusern und Fabriken aus Stahl und Beton. Acht der zehn größten Städte liegen an Küsten, 21 Prozent der Weltbevölkerung leben weniger als 30 km vom Meer entfernt. [7] Außerdem sind wir wesentlich zahlreicher geworden. Vor 10.000 Jahren lebten Schätzungen zufolge weltweit etwa fünf bis zehn Millionen Menschen, heute sind es sieben Milliarden. "Beruhend auf den Bevölkerungszahlen von 1995 leben derzeit 60 Mio. Menschen innerhalb der 1-m-Zone und 275 Mio. Menschen innerhalb der 5-m-Zone über dem mittleren Meeresspiegel. Wenn Prognosen über das Bevölkerungswachstum in diese Schätzungen einbezogen werden, steigen die Zahlen bis Ende des 21. Jahrhunderts auf 130 Mio. (1-m-Zone) bzw. 410 Mio. Menschen (5-m-Zone)." [8] Zuletzt war die Westantarktis vor drei bis fünf Millionen Jahren eisfrei - in Zeiten übrigens, in denen es auf der Erde lediglich drei Grad wärmer war als heute. Allein das würde den Meeresspiegel voraussichtlich um fünf bis sieben Meter anheben. [9] Die gesamte Antarktis war vor 34 Millionen Jahren komplett vom Eis befreit. [10] Unmöglich ist das Schreckensszenario also nicht. Erwärmt sich die Erdatmosphäre tatsächlich so stark, dass der antarktische Eisschild vollständig schmilzt, würde der Meeresspiegel um unfassbare 61 Meter ansteigen. [11] Zusammengenommen (das vollständige Abschmelzen Grönlands, der Antarktis und der Gebirgsgletscher sowie die thermische Ausdehnung des Meerwassers) läge der Meeresspiegel rund 70 Meter höher als heute. Was hieße das? Hamburg, Bremen, Köln, Berlin - alle unter Wasser. Die Nordseeküste läge dann bei Dortmund. Und auf der anderen Seite des breiter gewordenen Atlantiks wäre die US-Hauptstadt Washington ebenso abgesoffen wie der gesamte Bundesstaat Florida. China hätte ein paar Inseln mehr und könnte nicht einmal die Hauptstadt Peking durch Dämme vor den Fluten des pazifischen Ozeans schützen. Die chinesische Hauptstadt, heute 150 km von der Küste entfernt und 64 Meter über dem Meeresspiegel, würde wahrscheinlich im Meer versinken. Von daher ist es absolut unverständlich, warum China und die USA ein Klimaabkommen ablehnen, sie müssten aus guten Gründen daran interessiert sein. Nicht zu fassen: "Die Zahl der Amerikaner, die den Klimawandel nicht für ein menschengemachtes Problem halten, sinkt weiter. Nach einer Umfrage des Pew Research Centers in Washington glaubten im Oktober 2010 nur noch 34 Prozent der Befragten, dass Klimawandel auf menschliche Aktivitäten zurückzuführen sei. Im Juli 2006 waren es noch 50 Prozent. Nur 59 Prozent glauben überhaupt an ausreichende Beweise für die Erderwärmung - 20 Prozent weniger 2006." [12] Es würde mich nicht wundern, wenn bald mehr Amerikaner an den angeblichen Weltuntergang am 21. Dezember 2012 glauben, als an die reale Bedrohung künftiger Generationen durch die Erwärmung der Erdatmosphäre. Warum wird ein Problem, das uns so offenkundig unter den Nägeln brennt, von vielen ignoriert oder gar geleugnet? Ist uns das Schicksal kommender Generationen wirklich vollkommen gleichgültig? Sitzen wir nur allzu gerne den Desinformationskampagnen der "Weiter so"-Fraktion auf? Macht sich hier der eklatante Bildungsmangel negativ bemerkbar? Oder spielen uns die Primatengene einen Streich, weil uns als Individuum das Balzen mit dem Gaspedal allemal wichtiger ist als das Überleben der Spezies? Wie auch immer, es ist jedenfalls unheimlich schwer, sich im Weltmaßstab auf konkrete Maßnahmen zu einigen. Wenn selbst die vergleichsweise aufgeklärten Kanadier aus dem Kyoto-Protokoll aussteigen... [13] ---------- [1] Frankfurter Rundschau vom 30.12.2011 [2] Wikipedia, Liste der größten Kohlenstoffdioxidemittenten, Weltproduktion [3] Scripps Institution of Oceanography, La Jolla, California, USA [4] Focus-Online vom 07.12.2011 [5] Wikipedia, Liste der größten Kohlenstoffdioxidemittenten [6] Wikipedia, Grönländischer Eisschild, Einfluss der globalen Erwärmung [7] Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung, Die Zukunft der Meere – zu warm, zu hoch, zu sauer, Sondergutachten 2006, Seite 41, PDF-Datei mit 3,3 MB [8] Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung, a.a.O., Seite 47 [9] Focus-Online vom 18.03.2009 [10] Handelsblatt vom 24.03.2011 [11] Wikipedia, Antarktischer Eisschild [12] Klimaretter.info vom 30.10.2010 [13] Der Tagesspiegel vom 13.12.2011 |