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15. Januar 2012, von Michael Schöfer
Der sauber geführte Krieg ist eine Erfindung der Propaganda


Es sei ein "Skandal-Video", das bei Youtube zu sehen ist: US-Marineinfanteristen urinieren auf tote Taliban-Kämpfer. "Diese respektlose Tat ist unerklärlich und nicht in Übereinstimmung mit den hohen moralischen Maßstäben, die wir von Koalitionstruppen erwarten", erklärte die ISAF [1] "Pentagon-Sprecher John Kirby sagte, die Aufnahmen hätten ihm 'den Magen umgedreht'. Egal unter welchen Umständen das Video entstanden und wer die Personen darin seien, handle es sich um ein 'abstoßendes, monströses und inakzeptables Verhalten für jede Person in Uniform'." [2]

Jetzt lügen sie sich wieder in die Tasche, zeigen sich entsetzt und sprechen unisono von unmenschlichem, unmoralischem und brutalem Verhalten. Doch der Vorfall ist beileibe kein Einzellfall, in Kriegen ist Unmenschlichkeit ohnehin die Regel, mitnichten die Ausnahme. Der sauber geführte Krieg ist lediglich eine Erfindung der Propaganda. Es gibt ihn nicht. Die schmutzige Realität des Krieges wird allerdings selten gezeigt. Kriegshandlungen wirken auf alle Beteiligte brutalisierend, das ist eine keineswegs neue Erkenntnis und gilt selbstverständlich auch für den bereits 10 Jahre währenden Afghanistan-Krieg des Westens. Hinzu kommt im speziellen Fall, dass die Regierenden in Washington diesbezüglich kaum als Vorbild gelten dürften.

Gerade "feiern" wir 10 Jahre Guantanamo. Und noch immer glaubt die US-Regierung, Menschen ohne Anklage und Gerichtsverfahren auf unbegrenzte Zeit festhalten zu dürfen. Nein, nicht nur unter George W. Bush, sondern auch unter Obama. Der Präsident, der uns vor vier Jahren großspurig den Wandel versprach, hat nämlich gerade ein Gesetz (National Defense Authorization Act) unterzeichnet, wonach u.a. die US-Regierung "Terrorverdächtige ohne Gerichtsverfahren festsetzen kann" und das US-Militär "Terrorverdächtige innerhalb und außerhalb der USA festnehmen, verhören und ohne zeitliche Beschränkung festhalten kann". [3] Wen man des Terrors verdächtigt, das entscheidet die Regierung gemäß ihrer unnachahmlichen, keiner Gerichtsbarkeit unterzogenen Weisheit. Also nach Gutdünken. Früher nannte man das Willkürherrschaft.

Wer regt sich denn in den USA über das Fortbestehen von Guantanamo, die andauernden Verstöße gegen das Völkerrecht und die Missachtung der Menschenrechte auf? Außer ein paar Bürgerrechtlern niemand. Weder die Politiker, die Presse noch das Volk. Das wirkt ungemein brutalisierend: Systematisch die Werte verletzen, die man angeblich verteidigt, Menschen zu foltern, ihnen ihre Rechte vorenthalten und alledem auch noch gleichgültig gegenüberstehen. Das ist Brutalisierung von oben herab, von Seiten der Regierenden und beginnt schon mit der Sprache: Folter nennt man verharmlosend "harte Verhörtechniken". Im Kampf gegen den Terrorismus müsse man halt die "Handschuhe ausziehen" (Ex-Vizepräsident Richard Cheney). Klingt nach einem harten, aber fairen Faustkampf, doch in Wahrheit sterben zahlreiche Kombattanten und insbesondere viele unschuldige Zivilisten (Männer, Frauen, Kinder). Letztere bezeichnet die Propaganda dann als "Kollateralschaden". Hohe moralische Maßstäbe? Ja, wo denn? Und jetzt regen sich alle wegen ein paar urinierenden Marines auf... Nein, die Verantwortlichen werden nur die Geister nicht mehr los, die sie gerufen haben. Die hehren Prinzipien, die sie wie eine Monstranz vor sich hertragen, sind nämlich nur noch Fassade.

Der eigentliche Skandal ist daher nicht das Verhalten der US-Soldaten, sondern die systematisch von oben herab organisierte Verletzung der Menschenrechte. Und wer so etwas tut, braucht sich über urinierende Marines nicht zu wundern. Die wahren Verantwortlichen für den Skandal sitzen andernorts: im Weißen Haus, im Kongress, beim Supreme Court, in den Zeitungsredaktionen und den Fernsehsendern. Bestrafen wird man aber - wie gehabt - bloß das letzte Glied in der Kette: die einfachen GIs, die auf die Brutalität ihrer Befehlshaber ihrerseits mit Brutalität gegenüber Menschen reagieren. Das, lieber John Kirby, dreht nun wiederum mir den Magen um.

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[1] Badische Zeitung vom 13.01.2012
[2] Focus-Online vom 12.01.2012
[3] Spiegel-Online vom 04.01.2012