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24. Januar 2012, von Michael Schöfer
Der Feind steht bekanntlich immer links


Dagegen, dass der Verfassungsschutz den sächsischen Landtagsabgeordneten und Bundesvorsitzenden der rechtsextremen NPD, Holger Apfel, oder den NPD-Landtagsabgeordneten Udo Pastörs (Mecklenburg-Vorpommern) beobachtet, erheben sich keine Einwände (außer bei den Rechtsextremen selbst). Und das zu Recht. Hier hat der Vorhalt von Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die Arbeit von frei gewählten Abgeordneten dürfe nicht durch den Verfassungsschutz beeinträchtigt werden, keine Gültigkeit, schließlich sind auch - so bedauerlich das sein mag - Apfel und Pastörs frei gewählte Mandatsträger. Ob der Verfassungsschutz grundsätzlich keine Angeordneten beobachten darf, steht folglich überhaupt nicht zur Debatte. Es geht vielmehr um den konkreten Einzelfall, sprich um die Beobachtung von 27 Bundestagsabgeordneten der Linken.

Vergleiche hinken immer, aber die Beobachtung von Gregor Gysi, Sahra Wagenknecht, Dietmar Bartsch, Petra Pau und anderen ist meines Erachtens nicht mit der Beobachtung von Holger Apfel und Udo Pastörs gleichzusetzen. Letztere bekämpfen nämlich die Demokratie, während die Linke sich mehrheitlich für eine antikapitalistische Politik einsetzt. Ein kleiner, aber entscheidender Unterschied. "Die NPD ist eine ideologisch festgefügte Partei mit einer geschlossenen rechtsextremistischen Weltanschauung. Die ethnisch homogene 'Volksgemeinschaft' stellt für sie das Kernelement dar. Der darauf beruhende völkische Ansatz ist Mittelpunkt der politischen, ökonomischen und sozialen Konzepte der Partei und Richtschnur für die Beschäftigung mit unterschiedlichen Themen", schreibt der Verfassungsschutz über die NPD. [1] Das rassistische Politikverständnis der NPD steht im Widerspruch zur Verfassung und ist mit unseren Grundwerten unvereinbar. Ob die NPD obendrein eine "aggressiv-kämpferische Haltung" gegen die freiheitlich-demokratische Ordnung einnimmt, die zu einem Verbot führen wird, entscheidet sich am Ende vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Jedenfalls spricht vieles dafür.

Eine solch "aggressiv-kämpferische Haltung" kann man der Linken wohl kaum unterstellen, wenngleich Sympathien von großen Teilen der Partei für Fidel Castro oder Hugo Chávez unverkennbar sind. Aber haben Gerhard Schröder und Nicolas Sarkozy früher nicht auch Libyens Diktator Muammar al-Gaddafi hofiert? Galten Gaddafi und Berlusconi seinerzeit nicht sogar als "Männerfreunde"? War der Ex-Bundeskanzler deshalb Beobachtungsobjekt des Geheimdienstes? Nein! "Wir streben eine sozialistische Gesellschaft an, in der jeder Mensch in Freiheit sein Leben selbst bestimmen kann und dabei solidarisch mit anderen zusammenwirkt. Die Überwindung der Dominanz kapitalistischen Eigentums in der Wirtschaft (…) sind dafür die wichtigsten Grundlagen. (…) Demokratischer Sozialismus (…) zielt auf grundlegende Veränderungen der herrschenden Eigentums-, Verfügungs- und Machtverhältnisse." Unter anderem diese Passage des Programmentwurfs zieht der Verfassungsschutz als Beleg dafür heran, die Linke wolle eine grundlegende Veränderungen der Staats- und Gesellschaftsordnung. [2] Doch wie bereits in "Hat der Kapitalismus Verfassungsrang?" [3] dargelegt, hat die Wirtschaftsform - Kapitalismus hin, Sozialismus her - bei uns gar keinen Verfassungsrang. Die Abkehr vom Kapitalismus mag zwar politisch unwahrscheinlich sein, allerdings steht sie nicht im Widerspruch zum Grundgesetz. Die Deutschen könnten sich mehrheitlich in freien Wahlen für den Sozialismus entscheiden. Mit anderen Worten: Es ist vollkommen legal, gegen den Kapitalismus zu sein. Woraus leitet der Verfassungsschutz dann den Grund für die Beobachtung der Linken ab? Den Terminus "demokratischer Sozialismus" findet man übrigens auch im Programm der SPD.

Selbstverständlich bin ich den Linken gegenüber alles andere als blauäugig. Ich würde keinesfalls die Hand dafür ins Feuer legen, dass dort jeder unter Demokratie und Freiheit das gleiche versteht wie ich. Doch das würde mir auch bei der CDU und der CSU schwerfallen. Die "Kommunistische Plattform" in der Linkspartei mit ihren 1.200 Mitgliedern ist gewiss nicht zu vernachlässigen, aber auch nicht überzubewerten. Rechtfertigt das wirklich die Beobachtung von 27 Bundestagsabgeordneten? Das Bundesamt für Verfassungsschutz sammelt über die Linke angeblich nur öffentlich zugängliche Informationen. Nachrichtendienstliche Mittel, zum Beispiel das Abhören von Telefongesprächen, kämen nicht zum Einsatz, heißt es. Dennoch wird durch das Ausmaß der Beobachtung das Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative tangiert. Gregor Gysi ist zweifellos zuzustimmen: "Der Bundestag soll die Geheimdienste kontrollieren, nicht die Geheimdienste den Bundestag." [4] Wenn sich die Exekutive anmaßt, Teile der Legislative zu beobachten und dadurch gleichzeitig zu diskreditieren, stellt sich in der Tat die Frage, ob diese Beobachtung noch auf dem Boden der Verfassung stattfindet. Auch das entscheidet vermutlich irgendwann das Bundesverfassungsgericht.

Bedauerlich ist zudem, wie wenig der Verfassungsschutz seiner eigentlichen Aufgabe nachkommt. "Auch 2010 waren in Deutschland keine rechtsterroristischen Strukturen feststellbar", heißt es im Verfassungsschutzbericht 2010. Und: "Rechtsextremistische Gewalt wird überwiegend spontan begangen." [5] Aus heutiger Sicht absolut blamabel. Presseberichten zufolge sollen vier Geheimdienste (Bundesamt für Verfassungsschutz, Landesamt für Verfassungsschutz, Militärischer Abschirmdienst und eine vierte, bislang unbekannte Behörde) mindestens fünf V-Leute im Umfeld der Zwickauer Terrorgruppe gehabt haben - trotzdem wollen sie vollkommen ahnungslos gewesen sein und von der Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) nichts gewusst haben. [6] Da staunt man. Arbeiten unsere Behörden wirklich so dilettantisch? Der Thüringer Verfassungsschutz soll darüber hinaus sogar die Polizeiarbeit behindert haben. [7] Etwa absichtlich? Da tun sich womöglich Abgründe auf.

Der Feind stand in Deutschland bekanntlich schon von jeher links - obgleich unser Land stets von rechts ins Unglück gestürzt wurde. Eines von vielen abstrusen Beispielen: Am 2. Juni 1967 erschoss der West-Berliner Polizeibeamte Karl-Heinz Kurras den Studenten Benno Ohnesorg. "Kurras, der Tat wegen zweimal angeklagt, wurde zweimal [1967 und 1970] freigesprochen - obwohl die Richter seine Beschreibungen des Tathergangs nicht für schlüssig hielten." [8] Anschließend verschwand Kurras aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit - bis 2009 seine Tätigkeit als Informeller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR bekannt wurde. Gleichzeitig kam ans Tageslicht: Kurras war seit 1964 (!) Mitglied der SED. Prompt nahmen die Behörden neue Ermittlungen auf. Wohlgemerkt, 42 Jahre nach der Tat. Warum erst jetzt? Weil Kurras aus der Sicht der deutschen Behörden schlagartig auf der "falschen", d.h. auf der linken Seite stand? Vor Kurras' Enttarnung sah man dafür offenbar keinen Anlass, danach entzog man ihm plötzlich seine Pistole und fand überdies bei einer unangekündigten Hausdurchsuchung einen illegalen Revolver sowie einen Totschläger.

Neuerdings wird sogar geprüft, ob es nicht doch Mord war: Es gibt "neue Indizien für eine gezielte Erschießung Ohnesorgs und deren Vertuschung durch die damalige Westberliner Polizei: Auf einem bisher unbekannten Film des SFB sei Kurras im Umriss mit einer Pistole in der Hand zu sehen, der sich Sekunden vor dem Schuss unbedrängt auf Ohnesorg zubewege. Eine Fotografie zeige den zielenden Schützen, gestützt auf einen Polizeikollegen, der nie befragt worden sei; eine weitere Fotografie zeige Kurras und dem Einsatzleiter Helmut Starke, der Kurras erst nach dem Todesschuss bemerkt zu haben behauptete." [9] Ich stelle die keineswegs ketzerische Frage: Hätte man Kurras, wäre seine IM-Tätigkeit und SED-Mitgliedschaft geheim geblieben, in Ruhe gelassen? Darüber mag ich gar nicht spekulieren, aber der Verdacht drängt sich förmlich auf.

Der Feind steht hierzulande bekanntlich immer links, während man auf dem rechten Auge allzu oft blind zu sein scheint. Das ist in Deutschland leider eine unselige Tradition.

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[1] Bundesamt für Verfassungsschutz, Verfassungsschutzbericht 2010, Seite 67, PDF-Datei mit 4,3 MB
[2] Bundesamt für Verfassungsschutz, Verfassungsschutzbericht 2010, Seite 155
[3] Hat der Kapitalismus Verfassungsrang? vom 16.05.2008
[4] Focus-Online vom 23.01.2012
[5] Bundesamt für Verfassungsschutz, Verfassungsschutzbericht 2010, Seite 57
[6] Frankfurter Rundschau vom 15.01.2012
[7] RP-Online vom 20.12.2011
[8] Die Welt-Online vom 24.01.2012
[9] Wikipedia, Karl-Heinz Kurras, Neue Ermittlungen und Maßnahmen und Spiegel-Online vom 22.01.2012