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06. Februar 2012, von Michael Schöfer
Deutsche Dummheit, nein!

Experten mögen kein Stammtischgeschwätz. Umso mehr verwundert es, wenn sie selbst Stammtischgeschwätz verbreiten. Norbert Walter, früher Chefvolkswirt der Deutschen Bank, hat schon von jeher sein Image als Ökonomie-Experte gepflegt. Neuerdings beglückt er uns als Kolumnist der Frankfurter Rundschau. Und genau dort ist Walter wieder einmal tief ins Fettnäpchen getreten. "Die Deutschen sollen nun die Hauptlast der Sanierung von Übertreibern in Irland, Griechenland und Italien tragen. Und diese Last soll getragen werden ohne dass sicher gestellt ist, dass diese Länder wirtschaftspolitisch ihren Kurs auf eine nachhaltige Sanierung ausrichten", beklagt Walter. "Deutsche Solidarität ja, deutsche Dummheit, nämlich gutes Geld schlechtem hinterherzuwerfen, nein! Meine Bitte zum Jahresanfang: Sensibilität und Klugheit statt Stammtischparolen." [1]

Übertreiber? Und dabei nennt er Irland, Griechenland und Italien in einem Atemzug? Das ist - mit Verlaub - genau das, was Walter angeblich ablehnt: dummes Stammtischgerede. Nach Angaben von Eurostat betrug die irische Schuldenquote (Staatsverschuldung in Prozent vom Bruttoinlandsprodukt) 2007, also vor der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise, lediglich 24,8 Prozent. Bis 2010 stieg sie jedoch auf 92,5 Prozent. [2] Für 2012 werden sogar 115 Prozent prognostiziert. [3] Irland erwirtschaftete in den elf Jahren zwischen 1997 und 2007 zehnmal Haushaltsüberschüsse und nur einmal (2002) ein kleines Defizit von vernachlässigbaren 0,4 Prozent. 2006 betrug der Haushaltsüberschuss 2,9 Prozent, 2007 immerhin noch 0,1 Prozent. Bis 2010 verwandelte sich der Überschuss allerdings in ein sattes Defizit in Höhe von 31,3 Prozent. [4]

Und warum? Ganz einfach: "Die Summe der ausstehenden Kredite, Derivate und Hypothekendarlehen der kaum regulierten irischen Banken übersteigt das Bruttoinlandsprodukt beinahe um das Vierfache. Ende 2009 wurde die staatliche National Asset Management Agency (NAMA) als Bad Bank gegründet und übernahm bisher (Juni 2010) von den fünf teilnehmenden Unternehmen (Allied Irish Banks, Anglo Irish Bank, Bank of Ireland, Irish Nationwide Building Society und EBS Building Society) Verbindlichkeiten im Wert von 81 Milliarden Euro." [5] Mit anderen Worten: Irland hat alle Defizite des Finanzsektors übernommen und damit den Spekulanten den Arsch gerettet. Schuld war also - wie andernorts - die Deregulierung der Finanzmärkte, keine "Übertreibung". Den "keltischen Tiger" in einem Atemzug mit Griechenland zu nennen, wo die prekäre Situation ganz andere Ursachen hat, ist in hohem Maße unseriös. "Deutsche Dummheit, nein!" Norbert Walter ist zuzustimmen, aber das gilt in erster Linie für ihn selbst.

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[1] Frankfurter Rundschau vom 06.02.2012
[2] Eurostat, Öffentlicher Bruttoschuldenstand, Prozentanteil des BIP und Millionen Euro, Prozent des BIP
[3] Wikipedia, Liste der Länder nach Staatsschuldenquote
[4] Eurostat, Defizit/Überschuss, Schuldenstand des Staates, Prozentanteil des BIP und Millionen Euro, Prozent des BIP
[5] Wikipedia, Wirtschaft Irlands