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14. März 2012, von Michael Schöfer
Migrationshintergrund


"29 % der Familien mit minderjährigen Kindern haben einen Migrationshintergrund", meldete das Statistische Bundesamt am 13. März. [1] 29 Prozent? Ja, fast ein Drittel. Der Stern [2] und Die Welt [3] griffen das Thema auf ihren Websites auf und garnierten den Bericht mit dem Bild einer Kopftuch tragenden Frau und ihrem Kind. Es ist sogar bei beiden Publikationen die gleiche Frau und das gleiche Kind abgebildet, nur aus einer anderen Perspektive. Die Frau mit Kopftuch soll offenbar eine Muslima darstellen. Das suggeriert: 29 Prozent der Kinder sind Muslime. (Wer liest Überschriften schon genau?) Und außerdem: Thilo Sarrazin hat mit seiner These "Deutschland schafft sich ab" also doch recht.

Beim Statistischen Bundesamt sind freilich detailliertere Mikrozensus-Daten [4] zu bekommen, die die Behauptung, Deutschland werde von Muslimen mit Hilfe einer höheren Geburtenrate erobert (Sarrazin: "Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate"), widerlegen.

Betrachten wir die Gesamtzahl der Bevölkerung in Deutschland: 2010 hatten von 81,715 Mio. Menschen 65,970 Mio. (= 80,7 Prozent) keinen Migrationshintergrund. 15,746 Mio. (= 19,3 Prozent) waren dagegen "Personen mit Migrationshintergrund im engeren Sinn". Definition: "Zu dieser Bevölkerungsgruppe zählen im Mikrozensus alle seit 1950 nach Deutschland Zugewanderten und alle im Inland mit fremder Staatsangehörigkeit Geborenen sowie die hier geborenen Deutschen, die mit zumindest einem Elternteil im selben Haushalt leben, der zugewandert ist oder als Ausländer in Deutschland geboren wurde." [5] 2,485 Mio. "Personen mit Migrationshintergrund im engeren Sinn" hatten einen türkischen Migrationshintergrund - das waren aber lediglich 3 Prozent der Gesamtbevölkerung.


[Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung, 2011, www.bpb.de
Lizenz: Creative Commons by-nc-nd/3.0/de]


Wie sieht es jedoch mit der Geburtenrate aus? Sarrazin behauptet schließlich, die sei so hoch, dass die Türken damit Deutschland erobern könnten. 2010 waren 3,280 Mio. der Gesamtbevölkerung unter fünf Jahre alt. Von diesen hatten 2,137 Mio. (= 65,2 Prozent) keinen Migrationshintergrund, 1,143 Mio. (= 34,8 Prozent) besaßen allerdings einen solchen. In dieser Altersgruppe haben Kinder mit Migrationshintergrund demnach einen überproportional hohen Anteil. Doch Vorsicht: 206.000 (= 6,3 Prozent der Gesamtbevölkerung in dieser Altersgruppe) wiesen einen Migrationshintergrund aus den 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf, in der die Türkei bekanntlich gar nicht Mitglied ist. Nur 73.000 Kinder unter fünf Jahre hatten einen türkischen Migrationshintergrund, das sind in dieser Altersgruppe aber lediglich 2,2 Prozent der Gesamtbevölkerung. Das ist erstaunlich wenig und reicht wohl kaum für die Verwirklichung der von Sarrazin unterstellten Eroberungsabsichten aus. Immerhin: Für 582.000 (= 17,7 Prozent der Gesamtbevölkerung in dieser Altersgruppe) lagen keine Angaben vor bzw. waren diese unzutreffend, doch kann man über dieses Dunkelfeld naturgemäß nur spekulieren.

Altersgruppe (in Jahren) Personen mit türkischem Migrationshintergrund
(in 1.000)
Anteil mit Migrationshintergrund
aus EU-27
(in 1.000)
Gesamtbevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund
(in 1.000)
unter 5 73 (= 2,2 %)
206 (= 6,3 %) 3280
5 – 10 87 (= 2,5 %) 225 (= 6,4 %) 3518
10 – 15 203 (= 5,2 %) 244 (= 6,3 %) 3871
15 – 20 226 (= 5,3 %) 249 (= 5,8 %) 4264
20 – 25 202 (= 4,1 %) 286 (= 5,8 %) 4913
25 – 35 450 (= 4,6 %) 696 (= 7,1 %) 9775
35 – 45 557 (= 4,7 %) 759 (= 6,3 %) 11968
45 – 55 321 (= 2,5 %) 762 (= 5,9 %) 12962
55 – 65 195 (= 1,9 %) 602 (= 6,0 %) 10019
65 – 75 145 (= 1,5 %) 372 (= 3,8 %) 9750
75 – 85 24 (= 0,4 %) 182 (= 3,2 %) 5611

Zwar sind Kinder mit türkischem Migrationshintergrund (= in der Mehrzahl wahrscheinlich Muslime) in der Altersgruppe unter fünf Jahren die stärkste Einzelgruppe, insgesamt betrachtet sind sie jedoch in der Minderheit. Schon allein die Kinder mit griechischem (10.000), italienischem (35.000) und polnischem (51.000) Migrationshintergrund übertreffen zusammengenommen die mit einem türkischen deutlich. In allen Altersgruppen bleibt der türkische Migrationshintergrund hinter dem aus den 27 EU-Mitgliedstaaten zurück. Hinzu kommt die starke Gruppe der Kinder, deren Wurzeln in die ehemalige Sowjetunion zurückreicht (58.000).

Genaugenommen hätten Stern und Die Welt daher keine Muslima mit ihrem Kind, sondern eine Frau aus den 27 EU-Mitgliedstaaten zeigen müssen, denn nimmt man etwa die Altersgruppe von 0 bis 15 Jahren, sind Kinder aus der EU gegenüber den mit türkischem Migrationshintergrund klar in der Überzahl (675.000 gegenüber 363.000). Mit anderen Worten: Eine (mutmaßlich katholische) Polin oder (ebenso mutmaßlich katholische) Italienerin wäre wesentlich repräsentativer gewesen. Vielleicht auch eine (mutmaßlich christlich-orthodoxe) blonde Frau, die mit ihrem Kind russisch spricht. Warum bildet man in den Medien dennoch vorwiegend Muslime ab, wenn es um den Migrationshintergrund geht? Weil Muslime dem äußeren Anschein nach leichter zu identifizieren sind? Oder werden gar bewusst Vorurteile und Ängste geschürt? Wie auch immer, man braucht sich angesichts dessen nicht über die weit verbreiteten Stammtischparolen wundern.

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[1] Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 011 vom 13.03.2012
[2] Stern-Online vom 13.03.2012
[3] Die Welt-Online vom 13.03.2012
[4] Statistisches Bundesamt, Bevölkerung mit Migrationshintergrund - Ergebnisse des Mikrozensus - Fachserie 1 Reihe 2.2 - 2010, Excel-Datei mit 10 MB
[5] Bundeszentrale für politische Bildung, Migration