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18. April 2012, von Michael Schöfer
Gratiskultur


Früher hat fast alles etwas gekostet, eigentlich waren nur Luft und Liebe sowie Ortsgespräche der Deutschen Bundespost kostenlos, heute bekommt man dagegen vieles gratis. Das hat nicht immer etwas mit dem Internet und der Piratenpartei zu tun. Den Piraten wird ja gerne vorgeworfen, sie folgten einer abstrusen Gratiskultur und stünden dadurch mit dem Urheberrecht auf Kriegsfuß. Von dort ist es bis zur wie ein Mantra vorgetragenen Feststellung, dass das Internet kein rechtsfreier Raum sein dürfe, meist nicht mehr allzu weit. Angesichts einer aberwitzigen Abmahnindustrie, die es hierzulande 2011 auf eine Flut von 800.000 Abmahnungen gebracht hat [1], eine ziemlich kuriose Behauptung. Die Verleger, das geben sie jedem, der es hören will oder nicht, ständig ungefragt kund, haben nichts zu verschenken. Und die Politik will ihnen künftig mit einem Leistungsschutzrecht hilfreich zur Seite stehen. Die Gerichte sind da schon viel weiter und verurteilten kürzlich eine 64-jährige pflegebedürftige Rentnerin ohne Computer, E-Mail-Adresse und WLAN-Router, weil sie angeblich einen Hooligan-Film (!) über eine Tauschbörse angeboten habe. [2] Merke: Rechtsfrei ist im Internet gar nichts. Ganz im Gegenteil...

Aber in letzter Zeit hat die Politik auch dann Probleme, wenn jemand etwas bewusst gratis verteilt. So verschenken momentan Salafisten, das sind rückwärtsgewandte, teilweise sogar gewaltbereite Muslime, in den Fußgängerzonen den Koran. 25 Millionen Exemplare sollen so unter die Leute gebracht werden. Und alles regt sich auf. Nein, nicht wegen wegen einem Konflikt mit dem Urheberrecht, das liegt in diesem Fall bekanntlich bei Allah, sondern wegen den großzügigen Spendern, denen man schlimme Hintergedanken unterstellt. Die wollen natürlich missionieren, heißt es. Ob Deutschlands Frauen nach der Lektüre, sofern sie den Inhalt überhaupt zur Kenntnis nehmen, massenhaft die Burka überstreifen, wage ich allerdings zu bezweifeln. Was grausame Empfehlungen angeht steht die Bibel dem Koran übrigens in nichts nach. Beispiel: Wenn eine Frau nicht unberührt in die Ehe geht, "soll man sie heraus vor die Tür ihres Vaters Hauses führen, und die Leute der Stadt sollen sie zu Tode steinigen, darum daß sie eine Torheit in Israel begangen und in ihres Vaters Hause gehurt hat." (5. Buch Mose - Kapitel 22, 21) Steinigung sieht sie auch für Ehebruch (5. Buch Mose - Kapitel 22, 22) und Gotteslästerung (3. Buch Mose - Kapitel 24, 14-16) vor. Radikale Salafisten? Fragen Sie mal die, die die Bibel heute noch wörtlich nehmen. Doch würde man auf die kostenlose Verteilung des Alten Testaments ähnlich hysterisch reagieren? Wohl kaum. Wenn zwei das Gleiche tun...

Eine andere, aber keineswegs weniger umstrittene Gratisaktion: Der Axel-Springer-Konzern will am 23. Juni zum sechzigjährigen BILD-Jubiläum an mehr als 40 Millionen Haushalte ein Gratis-Exemplar verteilen. Nicht wenige sind der Meinung, dass in der BILD-Redaktion so etwas ähnliches wie Salafisten sitzen. Jedenfalls hat sich das Boulevard-Blatt in seiner Geschichte mit zahlreichen dubiosen Stories einen unrühmlichen Namen gemacht, vor kurzem wurde etwa erneut in bewährter Manier über Hartz IV-Bezieher gehetzt. [3] Angeblich darf man BILD sogar ungestraft als "Lügenblatt" bezeichnen. [4] Und deren Ergüsse bekommen wir also demnächst in den Briefkasten gesteckt? Ganz ohne vorher gefragt zu werden? Unverschämtheit. "Nicht alle Salafisten sind Terroristen, aber alle uns bekannten islamistischen Terrorverdächtigen haben einen salafistischen Hintergrund", mahnt Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich. [5] Vor BILD warnt er dagegen nicht. Was man so liest, dringt BILD viel mehr in die Hirne der Deutschen als der Koran. Insofern liegt die Antwort darauf, was schädlicher ist, im Grunde doch klar auf der Hand.

Aber wir sind dem zum Glück nicht hilflos ausgeliefert: Bei campact.de kann man sich gegen die Zustellung von BILD wehren, denn dort kann man folgenden Text an den Axel-Springer-Verlag übersenden:
Sehr geehrte Damen und Herren,

Sie haben Ihren Werbekunden angekündigt, am 23.06.2012 die von Ihnen verlegte BILD-Zeitung in einer Sonderausgabe an alle Haushalte in Deutschland zu verschenken. Ich möchte die BILD-Zeitung nicht geschenkt bekommen, weder als Sonder-, noch als reguläre Ausgabe.

Hiermit untersage ich der Axel Springer AG, Tochtergesellschaften, eventuellen Auftragsnehmern und anderen Vertragspartnern ausdrücklich, mir an die oben genannte Anschrift am 23.06.2012 oder an einem anderen Tag ohne meine vorherige schriftliche Einwilligung die BILD-Zeitung oder andere Erzeugnisse der Axel-Springer AG oder ihrer Tochtergesellschaften zuzustellen oder in den Briefkasten einzulegen oder durch Dritte zustellen oder in den Briefkasten einlegen zu lassen.

Ferner untersage ich Ihnen ausdrücklich, meine persönlichen Daten zu einem anderen Zwecke zu verwenden, als es für die logistische Umsetzung meines hier formulierten Anliegens zwingend notwendig ist und fordere Sie auf, anschließend sämtliche Daten umgehend und restlos zu löschen.

Mit freundlichen Grüßen

Daran könnte sich Hans-Peter Friedrich mal ein Beispiel nehmen: "Sehr geehrte Herren Salafisten..." (Damen haben ja bei denen wenig zu sagen). Vielleicht kommen die einer höflichen Bitte ja nach. Doch nix is... Mal wieder typisch. Dabei hätte das nur eine Briefmarke gekostet.

Einen Koran habe ich bereits - ohne dadurch Muslim oder gar Salafist geworden zu sein. Mit der Bibel könnte ich zur Not auch noch dienen - ohne dadurch Christ geworden zu sein. Jetzt bin ich bloß mal gespannt, ob bei mir am 23. Juni wirklich eine BILD im Briefkasten liegt. Aber ich sag's lieber gleich: Lieber Kai Diekmann, auch das wird mich nicht bekehren!

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[1] Bündnis 90 / Die Grünen, Landtagsfraktion Schleswig-Holstein, "ACTA stoppen, Freiheit des Internets bewahren, Urheberrecht weiterentwickeln" vom 24.02.2012
[2] taz vom 26.12.2011
[3] BILD vom 11.04.2012
[4] Readers Edition vom 11.07.2006, Günter Wallraff im Interview über BILD
[5] Südwest-Presse vom 17.04.2012