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22. April 2012, von Michael Schöfer
Wenn es stimmt, ist das eine beachtliche Leistung

Kürzlich las ich in der Frankfurter Rundschau einen Artikel über einen Hobby-Rezensenten, der es bei Amazon mehrfach in die "Hall of Fame" gebracht hat. Kein Wunder, bei dem Lesetempo: "Thorsten Wiedau war zehn Jahre lang Rezensent bei Amazon, hat in dieser Zeit 10.000 Bücher gelesen und 3.468 Buchkritiken geschrieben. (…) 'In fünfundvierzig Sekunden habe ich eine Seite durch, für die Rezension brauche ich noch einmal eine halbe Stunde.' Er sei eben ein Büchernarr, sagt Wiedau. (…) Thorsten Wiedau schraubt sein Pensum über die Jahre immer weiter hoch, um vorne zu bleiben. 500 Bücher pro Jahr liest er am Ende." [1]

Wie schafft man das, in 10 Jahren 10.000 Bücher zu lesen? Wenn ich da an meine eigene, vergleichsweise bescheidene Leseleistung denke, kann ich nur vor Neid erblassen. Obgleich ich ja ein bisschen skeptisch wurde, ob das wirklich zu schaffen ist. Ich habe einfach mal nachgerechnet:

Ununterbrochenes Lesen / 24 Stunden am Tag:
1 Stunde = 3.600 Sekunden = 80 Seiten (1 Seite a 45 Sekunden)
1 Tag = 86.400 Sekunden = 1.920 Seiten
1 Jahr = 31.536.000 Sekunden = 700.800 Seiten
10 Jahre = 315.360.000 Sekunden = 7.008.000 Seiten
7.008.000 Seiten = 23.360 Bücher (a 300 Seiten)

Rein rechnerisch ist die von Wiedau angegebene Anzahl locker zu erreichen. Rein rechnerisch, denn natürlich kann niemand ununterbrochen lesen. Die Praxis sieht ganz anders aus:

1 Woche hat 168 Stunden
minus 40 Stunden Arbeit verbleiben 128 Stunden Freizeit
minus 42 Stunden Schlaf (pro Nacht 6 Stunden) verbleiben 86 Stunden Freizeit
86 Stunden Freizeit = pro Woche maximal 309.600 Sekunden Lesezeit = 6.880 Seiten = 22,9 Bücher (a 300 Seiten)
pro Jahr sind das 1.192,5 Bücher

Der Durchschnitt von 300 Seiten pro Buch ist natürlich bloß eine willkürliche Annahme, nachgeprüft habe ich das nicht, obgleich man die Seitenzahl, wenn man seine 3.468 Rezensionen akribisch überprüft, ermitteln könnte.

Unter der Voraussetzung, dass man abgesehen von Arbeiten und Lesen nichts anderes macht, kann man in 10 Jahren also durchaus 10.000 Bücher lesen. Dennoch bleiben Zweifel, schließlich muss man essen, waschen, putzen, bügeln, aufs Klo gehen, duschen, einkaufen, kochen etc.

Deshalb: In meinen Augen ein gerade noch einigermaßen realistisches Pensum:
42 Stunden Lesezeit pro Woche (6 Stunden pro Tag) = 151.200 Sekunden = 3.360 Seiten = 11,2 Bücher (a 300 Seiten) = pro Jahr 582,4 Bücher.

Okay, 582,4 Bücher pro Jahr machen aber nach Adam Riese in 10 Jahren lediglich 5.824 Bücher. Immer noch beachtlich, aber deutlich weniger als die von Wiedau angegebenen 10.000 Bücher. Um Letzteres zu schaffen, müsste er im Durchschnitt 1.000 Bücher pro Jahr gelesen haben, laut Artikel in der FR waren es aber am Ende (!) "500 Bücher pro Jahr".

Zäumen wir das Pferd von der anderen Seite auf:
1.000 Bücher a 300 Seiten = 300.000 Seiten
bei 45 Sekunden pro Seite macht das eine Lesezeit von 13.500.000 Sekunden
13.500.000 Sekunden Lesezeit = 3.750 Stunden jährlich = 10,27 Stunden pro Tag

Wenn Thorsten Wiedau in 10 Jahren 10.000 Bücher gelesen haben will und jedes Buch im Durchschnitt 300 Seiten dick war, hätte er bei seiner angegebenen Lesefrequenz (45 Sekunden pro Seite) täglich mehr als 10 Stunden ununterbrochen lesen müssen. Sorry, das erscheint mir dann doch etwas zu unwahrscheinlich, das hält doch kein Mensch durch. Davon abgesehen soll man das Gelesene ja auch noch gedanklich verarbeiten. Vom Schreiben der Rezensionen ganz zu schweigen.

Fazit: Man kann nicht nur mit seinem angeblichen Lesepensum protzen, sondern auch mit Frauen: Auf Platz 1 der Rangliste der größten Protzer steht vermutlich der ehemalige US-Basketballstar Wilt Chamberlain (1936-1999). Chamberlain gibt in seiner Autobiographie an, mit 20.000 verschiedenen Frauen Sex gehabt zu haben. [2] Dazu hätte er unter der Voraussetzung, jeden Tag eine andere verführt zu haben, fast 55 Jahre gebraucht. Chamberlain wurde aber nur 63 Jahre alt (kein Wunder - bei dem Stress). Irgendwie liegt das für mich auf der gleichen Linie. Mit anderen Worten: ziemlich unglaubwürdig. By the way, rechnen Journalisten eigentlich nie nach?

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[1] Frankfurter Rundschau vom 18.04.2012
[2] Wikipedia, Wilt Chamberlain