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| Impressum 23. April 2012, von Michael Schöfer Verzerrte Wahrnehmung der Realität "Rekord bei den Steuereinnahmen" [1], "Steuereinnahmen steigen rasant" [2] und "Gute Konjunktur: Steuereinnahmen auf Rekordhöhe" [3] - so liest man es neuerdings allenthalben. Es entsteht der Eindruck: Die öffentlichen Haushalte müssten eigentlich überquellen vor Geld. Man kann es natürlich auch negativ ausdrücken: "Staat kassiert so viel Steuern wie noch nie." [4] Das suggeriert: Die Bürger werden geschröpft wie noch nie. Und man darf sich gerne ahnungslos zeigen: Noch vor zwei Monaten titelte die Süddeutsche "Konjunkturflaute lässt Steuereinnahmen sinken". [5] Ja, genau die, die heute (siehe oben) angesichts der guten Konjunkturlage sprudelnde Steuereinnahmen melden. Dem aktuellen Rekordwert bei den Steuereinnahmen steht allerdings die schlechte Finanzlage der öffentlichen Haushalte gegenüber. Viele Kommunen sind faktisch Pleite, und trotz guter Konjunktur klaffen etwa im wohlhabenden Baden-Württemberg Milliardenlöcher. Die Lage sei bedrohlich, heißt es. Wegen chronischer Finanznot sollen dort Polizisten anstatt im Streifenwagen zu Fuß oder mit dem Rad auf Streife gehen. [6] Ziel ist, die horrenden Spritkosten zu verringern. Man greift sich förmlich an den Kopf. Obendrein hängt über allem das Damoklesschwert der Schuldenbremse. Es reift daher langsam die Erkenntnis: Etwas stimmt nicht im Gefüge. Das ist korrekt, aber in erster Linie stimmt etwas nicht mit unserer Wahrnehmung. Vor allem mit der Wahrnehmung der Journalisten. Die Steuereinnahmen mögen auf Rekordniveau sein, doch das allein besagt wenig. Wenn man den Hartz IV-Regelsatz auf 380 Euro erhöhen würde, wäre das zweifellos ebenfalls Rekordniveau, doch ginge es den Betroffenen dadurch wirklich gut? Wohl kaum. Isoliert betrachtet sind Informationen meist nur begrenzt aussagefähig, alles muss nämlich immer zu irgendetwas ins Verhältnis gesetzt werden. Einkommen beispielsweise zum Verbraucherpreisindex. Wenn die Löhne zwar ständig steigen, der Anstieg jedoch stets hinter der Preissteigerungsrate zurückbleibt, verschlechtert sich in Wahrheit die Lage der Betroffenen. Da nützen - nominal gesehen - Rekordeinnahmen wenig, real entstehen dennoch Verluste. Es ist eben alles relativ - wie bei den Steuereinnahmen. Richtig ist: Nominal sind die Steuereinnahmen auf Rekordniveau. Richtig ist aber genauso: Gemessen am Bruttoinlandsprodukt sind die Steuern so niedrig wie noch nie. Und wenn man das erkennt, sieht man sich vielleicht die Einnahmeseite einmal genauer an. Da ist noch viel Luft nach oben. Ich nehme jetzt das schlimme Wort "Steuererhöhungen" in den Mund. Der ersten Tabelle kann man entnehmen, wie sich die Steuereinnahmen von 1960 bis heute entwickelt haben. 2011 ist mit rund 555 Mrd. Euro zweifellos das bislang beste Jahr. Der Tabelle kann man aber gleichzeitig den Anteil der Steuereinnahmen am Bruttoinlandsprodukt (= die Steuerquote) entnehmen. Es ist unschwer zu erkennen, dass sich die Steuerquote auf einem historischen Tiefstand befindet. Paradox: Der Rekord bei den Steuereinnahmen trifft sich mit dem historischen Tiefstand der Steuerquote. In der Presse lesen wir leider nur über die Rekordeinnahmen, so wird die Wirklichkeit verzerrt wiedergegeben. Und aus einer verzerrten Wahrnehmung ziehen manche halt die falschen Schlüsse. Der Staat ist de facto magersüchtig, während die Meldungen über Rekordeinnahmen bacchische Üppigkeit vortäuschen. Wie insbesondere die zweite Tabelle zeigt, sind die Steuereinnahmen im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung Deutschlands von Jahrzehnt zu Jahrzehnt peu à peu zurückgegangen. Wir sollten folglich als Alternative zur Sparwut über die Verbesserung der Einnahmeseite nachdenken. Hätte man nicht permanent Steuern gesenkt, Verzeihung: die Besserverdienenden entlastet, würde die Situation ganz anders aussehen. Hätte zum Beispiel die Steuerquote 2011 dem Durchschnitt der Steuerquote der siebziger Jahre entsprochen (23,1 Prozent), hätte der Staat anstatt 555 Mrd. Euro beachtliche 594 Mrd. eingenommen. Mit den 39 Mrd. Euro Mehreinnahmen wäre die Neuverschuldung der öffentlichen Haushalte wesentlich geringer ausgefallen. Oder man hätte mit den 39 Mrd. die Energiewende unterstützt anstatt der deutschen Solarindustrie irrsinnigerweise den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Also wenn Sie mich fragen, ich halte den Spitzensteuersatz, der in den achtziger Jahren unter Helmut Kohl (CDU) galt, für durchaus angemessen: 56 Prozent. Und deswegen hat damals keiner "Sozialismus" gebrüllt. Ein Grund hierfür war gewiss der kleine, nichtsdestotrotz ausschlaggebende Unterschied zwischen "Grenzsteuersatz" und "effektivem Steuersatz". Ich weiß, man müsste sich gleichzeitig über das Verhältnis der direkten (Einkommensteuer, Körperschaftsteuer etc.) zu den indirekten Steuern (Umsatzsteuer, Energiesteuer, Tabaksteuer etc.) unterhalten. Berechtigt sind zudem die Forderungen nach Wiedererhebung der Vermögensteuer und der Einführung einer Finanztransaktionssteuer. Ebenso wenig aus dem Fokus verschwinden darf zu guter Letzt der exorbitante Anstieg der Sozialabgaben (die Beitragssätze stiegen von 26,5 % im Jahr 1970 auf 39,2 % im Jahr 2012, in der Ära Kohl lagen sie teilweise sogar bei 42,1 %). Doch das ist ein so komplexes wie abendfüllendes Thema. Mir ging es hier lediglich um die richtige Einordnung der Pressemeldungen über Rekordwerte bei den Steuereinnahmen.
Die
Steuerquote: Seit Mitte der neunziger Jahre fast ständig
unter dem Durchschnitt (= 22,5 %, rote Linie)
Das
Auf und Ab des Spitzensteuersatzes
[Quelle der Grundtabelle: Wikipedia, Urheber: Udo.Brechtel, CC BY-SA 3.0-Lizenz, Hinzufügung der einzelnen Kabinette: Michael Schöfer] ---------- [1] Süddeutsche vom 20.04.2012 [2] Spiegel-Online vom 20.04.2012 [3] Focus-Money vom 20.04.2012 [4] RP-Online vom 21.04.2012 [5] Süddeutsche vom 23.02.2012 [6] Reutlinger General-Anzeiger vom 06.04.2012 [7] 1960-2010: Bundesministerium der Finanzen, Kassenmäßige Steuereinnahmen nach Steuerarten 1950 bis 2010 [8] Wikipedia, Steueraufkommen (Deutschland) [9] 1960-1969: Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2011, PDF-Datei mit 6 MB [10] 1970-2011: Statistisches Bundesamt, Bruttoinlandsprodukt (BIP), Lange Reihen ab 1970, Excel-Datei mit 280 kb |