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04. Mai 2012, von Michael Schöfer
Russisches Säbelrasseln


"Mit ihrem entstehenden Raketenabwehrsystem werden die USA zukünftig in der Lage sein, die Starts der russischen Interkontinentalraketen überall - sowohl auf dem Festland als auch von U-Booten aus zu behindern. Diese Meinung äußerte der russische Generalstabschef Nikolai Makarow." [1] "Russland arbeitet Makarow zufolge Gegenmaßnahmen zur Neutralisierung der potentiellen Gefahr aus, die vom europäischen Raketenabwehrsystem ausgehen kann. Die Liste reicht vom verstärkten Schutz der Raketenstartanlagen über die erhöhte Einsatzbereitschaft der Raketenwaffen bis hin zu einem Vorbeugungsschlag. Im Falle einer Verschärfung der Situation könnte Russland das Raketenabwehrsystem präventiv angreifen, sagte Makarow." [2]

Dass Russland der Nato mit einem Präventivschlag droht, ist einerseits etwas qualitativ völlig Neues, andererseits wird Moskau wohl kaum ernsthaft einen Angriff auf das westliche Bündnis in Erwägung ziehen. Naja, eigentlich. Aber wie wir aus historischer Erfahrung heraus wissen, hätten viele Kriege "eigentlich" gar nicht passieren dürfen, dennoch haben sie stattgefunden.

Ist die russische Raketenstreitmacht durch die europäische Raketenabwehr, die sich offiziell gegen "Schurkenstaaten" wie den Iran oder Nordkorea richtet, tatsächlich gefährdet? Kann der Westen das russische Nuklearpotential durch das in Europa geplante System effektiv entwerten? Die Antwort lautet: Jein.

Die Nato plant, "neben der Türkei u.a. in Ramstein [Deutschland, Rheinland-Pfalz], Deveselu [Rumänien, im Kreis Olt, ca. 60 km nördlich der Staatsgrenze zu Bulgarien], Stolp (Slupsk) [Polen, 18 Kilometer von der Ostseeküste entfernt in Hinterpommern] und Rota" [Spanien, im Südwesten der Region Andalusien] Abwehrraketen aufzustellen. [3] Die als Hauptwaffe vorgesehene SM-3 hat eine Reichweite von 500 km und eine Einsatzhöhe von mindestens 247 km. Damit wäre das russische Atompotential aber kaum zu neutralisieren. Landgestützte russische Atomraketen, die die USA angreifen, fliegen hauptsächlich über den Nordpol. Und da sich ein Teil des russischen Raketenpotentials außerhalb der Reichweite des europäischen Raketenschildes befindet [4], sind diese Waffen nicht in Gefahr.

Anders sieht es allerdings beim seegestützten Teil des Raketenabwehrschildes aus: "Die USA sind seit langem bei der Entwicklung seegestützter Raketenabwehrsysteme führend. Anfang 2012 besitzt die US-Navy 24 mit dem Aegis-System ausgestattete Kriegsschiffe (5 Kreuzer der Ticonderoga-Klasse und 19 Zerstörer der Arleigh-Burke-Klasse). Nach dem auf 30 Jahre (2011-2041) angelegten US-Schiffsbauprogramm sollen insgesamt 84 Schiffe mit dem Aegis-System ausgerüstet werden: 10 von 22 Kreuzern und praktisch alle 74 Zerstörer. Ein mit dem Aegis-System ausgestatteter Kreuzer der Ticonderoga-Klasse oder ein Zerstörer der Arleigh-Burke-Klasse kann bis zu 30 SM-2 oder SM-3 Abwehrraketen verschiedener Modifizierungen abfeuern. Eine auf 84 Schiffe angewachsene 'Abfänger-Flotte' könnte also über 2.500 Abfangraketen verschießen." [5] Wenn das stimmt, ist die russische Schlagkraft tatsächlich in hohem Maße gefährdet. Ein Gürtel von Abwehrraketen, stationiert auf Schiffen im Nordpolarmeer (siehe Karte), das durch die Klimaerwärmung ohnehin zunehmend befahrbar sein wird, ist für die russischen Raketenstreitkräfte eine enorme Bedrohung. Und für die Generäle in Moskau ein Alptraum.


Das Nordpolarmeer [Quelle: Wikipedia, Bild ist public domain]

Selbst im Kalten Krieg wussten beide Kontrahenten (USA, Sowjetunion): Wer als erster schießt, stirbt als zweiter. Die Abschreckung, also die gesicherte Zweitschlagsfähigkeit, hat uns bislang - manchmal zugegebenermaßen mit viel Glück - vor dem Atomkrieg bewahrt. Es war der Traum Ronald Reagans, die USA durch eine weltraumgestützte Raketenabwehr unverwundbar zu machen. [6] Dieser Traum ist trotz vieler Fehlschläge immer noch nicht ausgeträumt, die europäische Raketenabwehr ist lediglich eine Variante davon. Doch sobald die gesicherte Zweitschlagsfähigkeit dahin ist, wird das Abschreckungssystem vollends instabil und die Lage gefährlicher als je zuvor. Der Anreiz, als erster zu schießen, weil einem vielleicht kein zweiter Schuss mehr zur Verfügung steht, wird unter diesen Umständen riesengroß. Die Gefahr, einem Irrtum zu erliegen und so versehentlich den nuklearen Schlagabtausch einzuläuten, ist nicht von der Hand zu weisen. Und es kommt bei der Einschätzung des Raketenabwehrschildes der Nato nicht darauf an, was die Nato wirklich will (naturgemäß herrscht darüber ohnehin große Unsicherheit), sondern darauf, wie das Ganze von Russland eingeschätzt wird. Hinzu kommt: Die Militärausgaben der USA betrugen 2011 laut SIPRI 711 Mrd. Dollar, die Militärausgaben Russlands betrugen demgegenüber 71,9 Mrd. Dollar - das sind nur 10 Prozent der amerkanischen. [7] Man stelle sich bloß einmal vor, es wäre umgekehrt. Wie würden wir dann darüber denken?

Seit Jahren diskutieren wir über das iranische Atomwaffenprogramm. Die Drohungen, gegen den Iran einen Präventivschlag zu führen, namentlich durch Israel, werden immer stärker. Dabei steht noch nicht einmal fest, ob der Iran tatsächlich an einem Atomwaffenprogramm arbeitet: "Nach Angaben von US-Verteidigungsminister Leon Panetta vom Januar 2012 könnte der Iran binnen zwölf Monaten eine Atombombe bauen, weitere ein bis zwei Jahre würde es dauern, ein Trägersystem herzustellen, um die Waffe einzusetzen. Panetta nimmt weiterhin an, dass der Iran noch keine Entscheidung zum Bau einer Bombe getroffen habe. Nach Angaben des Leiters des israelischen Militärgeheimdienstes, Aviv Kochavi, vom Februar 2012 soll der Iran über Uran für den Bau von vier Atombomben verfügen. 'Die Geheimdienste der Welt seien sich mit Israel einig, dass der Iran 100 Kilogramm auf 20 Prozent angereichertes Uran besitze.' Ende Januar sagte James R. Clapper, Direktor aller 16 US-amerikanischen Geheimdienste vor dem US-Senat, dass es keine handfesten Beweise gebe, dass der Iran eine Atomwaffe baue und dass aktuelle Berichte mit denen aus dem Jahr 2007 übereinstimmen würden, dass der Iran sein Atomwaffenprogramm bereits mehrere Jahre zuvor aufgegeben habe. Die Möglichkeit zum Bau einer Atomwaffe sei aber nicht auszuschließen." [8] Die Kakophonie ist erstaunlich, gleichwohl ist die Gefahr eines Präventivschlags auf den Iran real. Russland hingegen wollen wir die gleichen Ängste, die wir gegenüber Teheran hegen, nicht zugestehen. Darauf, ob die russischen Ängste vor der Nato objektiv richtig sind oder nicht, kommt es gar nicht an. Wir sind ja auch beim Iran unsicher, ob unsere Ängste objektiv zutreffen. Gerade wenn es um Krieg oder Frieden geht, darf man das subjektive Element keinesfalls ignorieren. Ein Beispiel hierfür ist die self-fulfilling prophecy.

"In beispielloser Schärfe hat Russlands militärische Spitze vor einer amerikanischen Raketenabwehr in Europa gewarnt und einen Präventivschlag gegen Stellungen der Raketenabwehr nicht ausgeschlossen", schreibt die FAZ. [9] Beispiellos? Vielleicht wenn wir vom Verhältnis zwischen Russland und der Nato sprechen. Gegenüber dem Iran sind derartige Drohungen fast schon an der Tagesordnung. Folglich ist eine Präventivschlagsdrohung alles andere als beispiellos, der Westen praktiziert sie schließlich ständig selbst. Das erwähnt die FAZ natürlich nicht.

Aus dem Dilemma (die divergierenden Sicherheitsbedürfnisse Russlands und der Nato) kann man nur mittels einer Vereinbarung herauskommen. Einseitige Maßnahmen sind kontraproduktiv und gefährlich. Das heißt, solange man sich mit Russland nicht über die Modalitäten einigen kann, sollte die Nato keinen Raketenabwehrschild installieren. Auf der anderen Seite sollte Russland den westlichen Befürchtungen über ein mögliches Atomwaffenprogramm des Iran mehr als bisher Rechnung tragen. Was die Welt jedenfalls am wenigsten brauchen kann, ist der Rückfall in den Kalten Krieg. Man kann nur hoffen, dass am Ende die Vernunft siegen wird.

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[1] Ria Novosty vom 03.05.2012, US-Raketenschild könnte russische Interkontinentalraketen global neutralisieren
[2] Ria Novosty vom 03.05.2012, Raketenabwehrkonferenz: Moskau droht Nato mit Präventivmaßnahmen (Zusammenfassung)
[3] Wikipedia, Raketenabwehr, Abwehr strategischer Raketen
[4] siehe Wikipedia, Russische Streitkräfte, Strategische Raketentruppen
[5] AG Friedensforschung an der Universität Gesamthochschule Kassel: Vladimir Kozin, Das seegestützte Raketensystem der USA und der NATO bedroht Russland, 23.04.2012
[6] siehe Strategic Defense Initiative (SDI) vom 30.12.1985
[7] Westdeutsche Zeitung vom 17.04.2012
[8] Wikipedia, Iranisches Atomprogramm, Geheimdienstberichte 2012
[9] FAZ.Net vom 03.05.2012