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| Impressum 26. Mai 2012, von Michael Schöfer Das ist doch total irrational Ungemein hartherzig: Die Chefin des IWF, Christine Lagarde, hat kein Mitleid mit den Griechen. "Sie habe mehr Mitleid mit den Ärmsten in Afrika als mit den Menschen in dem verschuldeten Euro-Land, sagte die frühere französische Finanzministerin in einem Interview. Die Griechen sollten sich selber helfen, 'indem sie alle ihre Steuern bezahlen'." [1] Wenn die Verantwortlichen, die die Krise in den Griff bekommen sollen, auf Stammtischniveau zu argumentieren beginnen, muss man das Schlimmste befürchten. In einem Land, in dem die Löhne in den letzten beiden Jahren im Durchschnitt um 30 Prozent gesunken sind und 25 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben, in dem die Arbeitslosigkeit bei 21,7 Prozent und die Jugendarbeitslosigkeit bei 53,8 Prozent liegt, in dem das Bruttoinlandsprodukt im vorigen Jahr um 6,9 Prozent gefallen ist und sich die Wirtschaft seit drei Jahren im freien Fall befindet, können nur wenige überhaupt in ausreichendem Maße Steuern zahlen. Das versteht sich wohl von selbst. Für manche geht es dort bereits ums nackte Überleben. Ich bin mal gespannt, was Lagarde zu den Kapitalverkehrskontrollen sagen wird, die die Griechen demnächst vielleicht einführen werden, damit die Begüterten nicht weiterhin ihr Kapital ins Ausland transferieren. Dass so etwas den freien Kapitalverkehr behindert? Vermutlich. Der designierte Co-Chef der Deutschen Bank, Jürgen Fitschen, setzt noch einen obendrauf: "Griechenland ist das einzige Land, von dem wir meiner Meinung nach sagen können, dass es ein gescheiterter Staat ist. Ein korrupter Staat, korrupt, was die politische Führung angeht." [2] Griechenland, das europäische Somalia? Ein bisschen übertrieben. Doch zumindest in einem hat er nicht unrecht: Die griechischen Politiker sind in der Tat korrupt, das geldgierige Establishment hat dort nämlich vollkommen versagt. Aber gewiss nicht nur in Griechenland. Unbestreitbar, es wäre schön, wenn die reichen Griechen endlich ihre Steuern zahlen würden. Doch wer soll den Augiasstall eigentlich ausmisten? Die, die in den letzten Jahrzehnten mit ihrem Nepotismus und ihren Lügen dafür verantwortlich waren, also die großen Verlierer der Parlamentswahl vom 6. Mai 2012, die Nea Dimokratia und die Pasok? Oder darf man Fitschens Einwand als Plädoyer zur Wahl der Radikalen Linken interpretieren? Das wäre dann wenigstens folgerichtig. Falls nicht, ist es bloß dummes Geschwätz. Am 17. Juni finden in Griechenland bekanntlich Neuwahlen statt, und die "Koalition der Radikalen Linken" (Syriza) hat gute Chancen, diesmal als Sieger über die Ziellinie zu gehen. Die Radikale Linke lehnt die rigiden Sparauflagen der EU ab, angesichts der verheerenden sozialen Auswirkungen (siehe oben) absolut verständlich. Was wäre das auch für eine Demokratie, die auf eine so schwere Krise nicht mit politischen Korrekturen reagieren würde? Darüber, dass die Politik der Radikalen Linken nicht der üblichen Logik der Kapitalverwertung entspricht, braucht man sich nicht wundern. Diese Logik trägt ja an der Krise eine gehörige Portion Mitschuld. Und was machen die Partnerländer? Sie drohen mit dem Rauswurf aus der Eurozone und malen gar das Verlassen der EU an die Wand. Die Hilfszahlungen will man einstellen, was die sofortige Pleite des Ägäisstaates zur Folge hätte: Kollaps der Banken, Ausbleiben von Gehalts- und Rentenzahlungen, rapider Verfall der griechischen Wirtschaft, weit über das bisherige Niveau hinaus anwachsende Armut. Doch das alles selbstverständlich nur, wenn die Griechen am 17. Juni tatsächlich "falsch" wählen sollten. Die massive Drohkulisse soll offensichtlich die Wähler beeinflussen. Denn wenn die, die den ganzen Schlamassel angerichtet haben (Nea Dimokratia, Pasok), weiterhin an der Macht bleiben, will man noch einmal beide Augen zudrücken. Ausgerechnet Nea Dimokratia und Pasok! Ist das nicht total irrational? Ich bin gespannt, was Lagarde & Co. machen, falls die Radikale Linke im Juni wirklich an die Macht kommt. Den Dominoeffekt riskieren, den Zerfall weiterer EU-Staaten wie etwa Spanien oder Italien? In Spanien, das ebenfalls mit hoher Arbeitslosigkeit und schrumpfender Wirtschaft zu kämpfen hat, stehen den Beobachtern angesichts der abermals aufflackernden Bankenkrise sichtlich die Sorgenfalten auf der Stirn. 184 Milliarden Euro "problematische Immobilienengagements" sollen in den Büchern der spanischen Geldinstitute schlummern, allein "der marode Sparkassenkonzern Bankia braucht nun nochmals 19 Milliarden Euro". [3] Was will die IWF-Chefin den Spaniern sagen, wenn diese Bombe hochgeht? Die Spanier sollen gefälligst ihre Steuern zahlen? Und danach den Italienern das Gleiche? Sorry, aber mit derart plumpen Empfehlungen gewinnt man keinen Blumentopf. Es ist doch offenkundig, dass es so nicht weitergehen kann. Glaubt wirklich jemand daran, dass, sollten Nea Dimokratia und Pasok noch einmal drankommen, tatsächlich alles gut wird? Wir werden für die Griechen zahlen müssen. Was sonst? Und nicht nur für die Griechen. Entscheidend ist doch, endlich die Konsequenzen aus der ökonomischen Misere zu ziehen: Die jeglichem Realitätssinn entwachsenen Finanzmärkte gehören entmachtet. Und die, die in den letzten 30 Jahren von der neoliberalen Ideologie überproportional profitiert haben, müssen wieder ihren gerechten Anteil am Steueraufkommen entrichten. Was sonst? Aber es sind wohl noch tiefgreifendere Reformen notwendig. 2011 war, was die CO2-Emissionen angeht, erneut ein Rekordjahr. Die Internationaler Energieagentur (IEA) hat gegenüber 2010 einen Anstieg um 3,2 Prozent auf 31,6 Gigatonnen registriert. Das Ziel, die Erwärmung der Erdatmosphäre auf zwei Grad zu begrenzen, ist gescheitert. "IEA-Chefvolkswirt Faith Birol äußerte sich sehr pessimistisch. Ohne Trendwende steuere die Welt auf eine Temperaturerhöhung um sechs Grad Celsius zu, sagte er. Dies würde 'verheerende Auswirkungen auf den Planeten haben'." [4] Wir sind also nicht nur ökonomisch gehörig in der Bredouille. Und jetzt mal ehrlich: Das Problem ist doch nicht die "Koalition der Radikalen Linken" in Griechenland. Das eigentliche Problem ist doch dieses irrationale Wirtschaftssystem. Wer meint, hier lediglich mit kosmetischen Korrekturen auszukommen, während in Wahrheit alles so weiterläuft wie bisher, wird noch sein blaues Wunder erleben. Die Instabilität ist buchstäblich mit Händen zu greifen. Folglich ist unter Umständen nicht das Wahlverhalten der Griechen irrational, sondern der Glaube, mit dem Rauswurf der Griechen aus der Eurozone wäre der Anfang vom Ende der Krise gekommen. Nein, wer nur an den Symptomen herumdoktert, wird die Krankheit kaum besiegen. ---------- [1] Frankfurter Rundschau vom 26.05.2012 [2] Frankfurter Rundschau vom 26.05.2012 [3] Frankfurter Rundschau vom 26.05.2012 [4] Frankfurter Rundschau vom 25.05.2012 |