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28. Mai 2012, von Michael Schöfer
Programmatische Defizite


Der Piratenpartei wird ja gerne vorgeworfen, sie hätte ein programmatisches Defizit. Insbesondere die Grünen präparieren sich für die Auseinandersetzung mit der stark wachsenden Konkurrenz. Doch auch die Ökopartei, laut eigenem Eingeständnis mittlerweile keine Protestpartei mehr, hat hier durchaus Nachholbedarf.

Beispiel Abmahnung: Auf diesem Geschäftsfeld hat sich inzwischen eine regelrechte Abmahnindustrie entwickelt. Über die Anzahl der Abmahnungen gibt es unterschiedliche Angaben. Die Landtagsfraktion der Grünen in Schleswig-Holstein spricht allein für das Jahr 2011 von 800.000 Abmahnungen. [1] Der "Verein zur Hilfe und Unterstützung gegen den Abmahnwahn e.V." beziffert sie demgegenüber auf rund 218.000. [2] Die Verbraucherzentralen wiederum sagen, dass es im vorigen Jahr knapp 220.000 Fälle von Abmahnungen mit "überhöhter Abmahngebühr wegen Verletzung des Urheberrechtes im Internet" gab (was impliziert, dass es überdies noch Abmahnungen mit korrekter Abmahngebühr gegeben haben muss). [3] Wie dem auch sei, die Zahl der Abmahnungen, ob berechtigt oder unberechtigt, scheint jedenfalls tatsächlich ziemlich groß zu sein.

Aber es geht beileibe nicht immer um eine Verletzung des Urheberrechts, etwa bei angeblichem Filesharing. Regelmäßig haben selbst politisch engagierte Weblogs mit Abmahnungen zu kämpfen. So ließ etwa MdB Hans-Christian Ströbele (Bündnis 90/Die Grünen) das Heddesheimblog abmahnen, weil er sich an einer Artikelüberschrift störte. [4] Juristisch ist die Sache unterdessen zwar erledigt, doch der Grüne fühlt sich offenbar noch immer als Opfer. [5]

Hardy Prothmann, der Betreiber des Heddesheimblog, übrigens ein Weblog mit journalistischem Anspruch, hat recht: Abmahnungen sind eine Bedrohung für die Presse- und Meinungsfreiheit. Elf Mal sei die Redaktion bislang abgemahnt worden. Ein besonders bizarres Beispiel: "In Heddesheim hat der CDU-Fraktionsvorsitzende Dr. Joseph Doll unsere Redaktion über einen Heidelberger Anwalt, der häufig für Gemeinden tätig ist, abmahnen lassen. Der Grund: Wir sollten Aussagen unterlassen. Das haben wir nicht gemacht, sondern reihenweise Aussagen erneut veröffentlicht, weil sie wesentlich für die Meinungsbildung sind. Wir haben geantwortet, dass wir das gerne gerichtlich feststellen lassen, ob ein CDU-Gemeinderat und Fraktionsvorsitzender ein Foto von sich auf einer öffentlichen Veranstaltung per Abmahnung verhindern kann. Wir haben dann nichts mehr vom Anwaltsbüro gehört." [6] Das Heddesheimblog weiß sich offenbar zu wehren. Prothmann will nun ebenfalls einen Verein gegen das Abmahnunwesen gründen.

Auch die NachDenkSeiten, hierzulande eines der besten Weblogs jenseits des publizistischen Mainstreams, ist von der Abmahnwelle betroffen. Telepolis fragte Wolfgang Lieb, einen der Macher der NDS: "Haben die NachDenkSeiten schon einmal Post von Abmahnanwälten bekommen?"

Antwort: "Leider ja, schon häufiger. Und leider lagen in der Post jeweils üppige Gebührenrechnungen von Anwälten. Selbst renommierte Anwaltskanzleien haben zivilrechtliche Widerrufs- und Unterlassungsansprüche gegen Blogs, aber auch gegen kritische Autoren als lukratives Geschäftsfeld entdeckt. Dubiose Inkassoagenturen werden zur Eintreibung der angeblichen Forderungen auch noch eingeschaltet. Während staatliche Zensurversuche öffentlich diskutiert und kritisiert werden, spielt sich diese Art zivilrechtlicher Zensur meist im Dunkeln ab. Zum Glück haben wir von den NachDenkSeiten bislang alle Ansprüche abwehren können, aber wir haben natürlich Kosten, weil wir unsere eigenen Anwälte bezahlen müssen. Hätten wir nicht eine Vielzahl von Förderern, könnte uns finanziell sehr schnell die Luft ausgehen. Ich kenne einige Autoren, denen die 'Zensur von privater Seite' richtig weh tut. Gegen einen finanzstarken Gegner, der es darauf anlegt einen Blog mundtot zu machen und der alle rechtlichen Register ziehen kann, hätte man kaum eine Chance seine freie Meinung im Internet zu sagen." [7]

Bei Pressedelikten können sich die Kläger das Gericht heraussuchen, bei dem sie sich die größten Erfolgschancen versprechen. Möglich macht dies der sogenannte "fliegende Gerichtsstand". "Der fliegende Gerichtsstand bewirkt, dass Klagen gegen Medien wegen der zu erwartenden betroffenenfreundlicheren Rechtsprechung besonders gerne bei den Pressekammern in Hamburg oder Berlin eingebracht werden. Dies auch dann, wenn beispielsweise ein Münchner ein Münchner Medienunternehmen verklagt. Es gab auch ein Verfahren, bei dem das Dresdner Landgericht der lokalen Dresdner Morgenpost die Printveröffentlichung nicht untersagte, das Hamburger Landgericht aber denselben Artikel im Internet verbot, da er auch in Hamburg zu lesen war. Auch Klagen wegen der Namensnennungen von ehemaligen Stasi-Mitarbeitern werden gerne an diese Gerichtsorte verlegt. Es ist auch möglich, wegen ein und derselben Veröffentlichung bei mehreren Gerichten gleichzeitig Unterlassungsklagen einzubringen, in der Hoffnung, dass wenigstens ein Gericht im Sinne des Antrags entscheiden werde." [8]

Bei der Klage des ehemaligen Daimler-Chefs Jürgen Schrempp gegen den kritische Daimler-Aktionär Jürgen Grässlin fanden die Verhandlungen der ersten und zweiten Instanz in Hamburg statt. Kuriosum: Weder Grässlin noch Schrempp wohnten in Hamburg. Und auch die Firma Daimler ist nach wie vor in Stuttgart ansässig. Warum dennoch die Gerichte in Hamburg bemüht wurden, lag offenbar an der allgemein bekannten Rechtsauslegung der dortigen Richter. Der "fliegende Gerichtsstand" macht's möglich. Grässlin bekam zwar am Ende vom Bundesgerichtshof recht, aber das Kostenrisiko ist beim Weg bis zur letzten Instanz entsprechend hoch. Grässlin hätte bei einer Niederlage Prozesskosten in Höhe von 35.000 Euro gehabt. Welcher kleine Blogger kann sich das leisten? Kaum einer. Viele geben deshalb vorher auf.

Obgleich der Leidensdruck groß ist, kommt das Wort "Abmahnung" weder im Bundestagswahlprogramm 2009 [9] noch im Grundsatzprogramm [10] von Bündnis 90/Die Grünen vor. Im 190-seitigen Grundsatzprogramm gibt es das Wort "Internet" überhaupt nur fünf Mal. Das Wort "Netzpolitik" gar nicht, "fliegender Gerichtsstand" ebenso wenig. Gut, das mag ungerecht sein, das Grundsatzprogramm der Grünen ist aus dem Jahr 2002. Doch beim Bundestagswahlprogramm 2009 ist es nicht viel besser: Das Wort "Internet" findet sich - in den unterschiedlichsten Kombinationen - immerhin 40 Mal. "Netzpolitik", obgleich die Grünen auf Seite 22 behaupten "Wir sind die Partei der Freiheit des Internets", erneut Fehlanzeige. Genau wie beim "fliegenden Gerichtsstand". Im 224 Seiten langen Bundestagswahlprogramm hat das Internet sogar ein eigenes Kapitel - ganze fünf Seiten (von Seite 195 bis Seite 200). Wenn die Grünen aktuell das Internet intensiver "entdecken", liegt es vielleicht doch ein bisschen an den Piraten.

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[1] Bündnis 90 / Die Grünen, Landtagsfraktion Schleswig-Holstein, "ACTA stoppen, Freiheit des Internets bewahren, Urheberrecht weiterentwickeln" vom 24.02.2012
[2] Verein zur Hilfe und Unterstützung gegen den Abmahnwahn e.V., Jahresstatistik 2011
[3] Heise.de vom 20.04.2012
[4] Heddesheimblog vom 28.11.2011
[5] Heddesheimblog vom 28.04.2012
[6] Heddesheimblog vom 25.05.2012
[7] Telepolis vom 18.04.2012
[8] Wikipedia, Fliegender Gerichtsstand
[9] PDF-Datei mit 1,3 MB
[10] PDF-Datei mit 603 kb