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03. Juli 2012, von Michael Schöfer
Archaisches Relikt Beschneidung


"Die Thora, der Schabbat und die Beschneidung sind die Herzstücke jüdischen Lebens", sagt die jüdische Philosophin Almut Bruckstein Çoruh. Die Beschneidung sei "das überlieferte Zeichen der Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft (...). Das hebräische Wort dafür ist 'Brit', gewöhnlich übersetzt als 'Bund'. Die Beschneidung besiegelt diesen Bund nicht, sondern konstituiert ihn." [1] Viele Juden, Muslime und sogar Christen bewerten das Urteil des Landgerichts Köln, wonach die Beschneidung von Jungen aus rein religiösen Gründen eine Körperverletzung und somit strafbar ist, als Einschränkung der Religionsfreiheit.

Das kann man natürlich auch anders sehen. Zunächst die etwas plumpere Version: Wenn Gott gewollt hätte, dass ich ohne Vorhaut leben soll, hätte er mir keine gegeben. Da ist nach religiöser Deutung Gott der Schöpfer des schier unermesslichen Universums, legt aber ungeachtet dessen äußerst großen Wert auf das Entfernen dieses delikaten Hautzipfelchens. Das wirkt auf mich offen gesagt ziemlich lächerlich. Aber als Atheist liegt es mir fern, religiösen Menschen vorzuschreiben, was sie bei ihrer Religion als wichtig oder unwichtig anzusehen haben. Schließlich ist das deren Angelegenheit. Wenn also jemand unbedingt die Vorhaut zum "Herzstück" seines Bundes mit Gott machen will... Bitteschön, nichts dagegen.

Zumindest sofern es seine eigene Vorhaut ist, denn unter Religionsfreiheit versteht man gemeinhin das Recht, dem EIGENEN Glauben zu folgen - und sei er auch noch so bizarr. Jeder darf nach seiner Fasson glücklich werden. Wenn Menschen etwa fest davon überzeugt sind, zu Ehren Gottes in Keuschheit leben zu müssen, habe ich genauso wenig einzuwenden. Aber sie sollen das Ganze gefälligst auf die eigene Lebensführung beschränken und diesbezüglich keinem anderen Vorschriften machen. Das heißt konkret in puncto Beschneidung: Es ist meiner Meinung nach tatsächlich eine (irreversible) Körperverletzung. Kindern (= Unmündigen) den Bund mit Gott aufzuzwingen, ist ohnehin abzulehnen. Wer fragt denn das Kind, ob es diesen Bund überhaupt eingehen will? Das kann man nämlich erst im Erwachsenenalter frei entscheiden, vorher ist Religiosität lediglich anerzogen. Kinder unterwerfen sich, nein, sie müssen sich den Ritualen ihres Umfelds unterwerfen. Behaupte keiner, man werde als Baby, das gerade eine Woche alt ist, aus Überzeugung Christ (Taufe) oder Jude (Beschneidung). Das ist vielmehr ausschließlich der Wille der Eltern. Im Geschäftsleben gelten Kinder aus gutem Grund als nicht geschäftsfähig, aber Gott hat angeblich nichts dagegen, wenn sie trotzdem einen Vertrag mit ihm abschließen. Das ist ja schlimmer als bei einem Haustürgeschäft, weil hier nicht einmal das 14-tägige Widerrufsrecht gilt.

In Deutschland muss man 14 Jahre alt sein, um sich aus der Zwangsgemeinschaft mit Gott lösen zu können, denn erst dann ist ein Kirchenaustritt möglich. Selbstverständlich gegen eine Gebühr, in Baden-Württemberg sind das "in der Regel 10 Euro bis 75 Euro". [2] Stellen Sie sich vor, ihre Eltern hätten Sie im zarten Alter von einer Woche bei der CDU angemeldet, aus der sie erst mit 14 wieder austreten könnten, falls Sie als Jugendlicher mit den Konservativen politisch nichts am Hut haben. Kostenpflichtig, versteht sich. Da würde jeder verständnislos den Kopf schütteln, so etwas ginge gar nicht, weil es schlicht und ergreifend verfassungswidrig wäre. Obgleich die politische Freiheit genauso im Grundgesetz steht wie die Religionsfreiheit. Doch bei Letzterer soll das akzeptabel sein? Ich meine, nein.

Es kommt aber noch besser: "Bewahren Sie Ihre Kirchenaustrittsbescheinigung gut auf! Oftmals wird nach vielen Jahren Ihr Kirchenaustritt angezweifelt. Nach derzeitiger Rechtslage sind Sie in der Beweispflicht, Ihren Austritt nachzuweisen. Einige Religionsgemeinschaften spekulieren darauf, dass ihre ehemaligen Mitglieder diese Bescheinigung nicht aufbewahren und fordern dann oftmals Jahre nach dem Austritt einen Beweis dafür. Ihnen drohen dann Kirchensteuernachzahlung für 6 Jahre." [3] Nicht der Verein muss beweisen, dass ich Mitglied bin. Nein, ich muss meine Nichtmitgliedschaft belegen. Die faktische Umkehr der Beweislast ist einfach grotesk. Obendrein: Aus der Sicht der katholischen Kirche können Sie gar nicht aus dem Glauben austreten. Einmal katholisch, immer katholisch. Das alles soll allein durch die Taufe, eine Entscheidung, die andere für einen treffen, statthaft sein? Unerhört. Und wenn man bedenkt, dass der Abfall vom Glauben (Apostasie) bei Muslimen eine lebensgefährliche Angelegenheit sein kann ("nach klassischem islamischem Recht wird öffentlich verkündeter Abfall vom Islam mit dem Tode bestraft") [4], müsste eigentlich jedem klar werden, dass das "Hineinwerfen" in einen Glauben inakzeptabel ist.

Zurück zur Beschneidung: Sie ist ein archaisches Relikt, dessen Ausführung Erwachsenen vorbehalten sein sollte. In freier Entscheidung. Wären bei einer Religion noch Menschenopfer oder zumindest das Abschneiden von Ohrläppchen üblich, hätte der Staat längst eingegriffen. Bei der Beschneidung von Mädchen tut er es, obgleich hier zugegebenermaßen, was die Auswirkungen angeht, ein erheblicher Unterschied besteht. Gleichwohl: Gut, dass ein Gericht nun endlich auch die Beschneidung von Jungen juristisch infrage stellt. Vollkommen zu Recht übrigens, denn die Beschneidung ist nicht nur irreversibel, sie tut selbst dann weh, wenn sie im Krankenhaus vorgenommen wird. Der Eingriff mag durch die Betäubung schmerzfrei sein, die Wundheilung ist es nicht. Dies gilt insbesondere bei muslimischen Jungen, die meist im Alter zwischen sieben und zehn Jahren beschnitten werden. Vom anachronistischen Männlichkeitsritual, das gleich ohne jegliche Betäubung vorgenommen wird, ganz zu schweigen. Religionsfreiheit hin oder her, es ist grausam. Die Religionsfreiheit habe hinter dem Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit zurückzustehen, meinten die Kölner Richter folgerichtig. Das ist nicht zu kritisieren.

Wie gesagt, wenn sich jemand als Erwachsener ohne Betäubung beschneiden möchte - nichts dagegen einzuwenden. Hier gilt uneingeschränkt die Religionsfreiheit. Aber bei Kindern? Nein, da nicht, selbst wenn dieser Brauch seit Jahrtausenden praktiziert wird.

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[1] Frankfurter Rundschau vom 02.07.2012
[2] Land Baden-Württemberg, service-bw, Kirchenzugehörigkeit und Kirchensteuer - Kirchenaustritt erklären
[3] Kirchenaustritt.de
[4] Wikipedia, Apostasie, Islam