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22. Juli 2012, von Michael Schöfer
Was ist bloß los mit unseren Sicherheitsdiensten?


Das fragen sich mittlerweile viele. Die ganze Republik steht Kopf angesichts der haarsträubenden Versäumnisse, die sich die Behörden in Bezug auf die Zwickauer Terrorzelle "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) geleistet haben. Der Präsident des Bundesverfassungschutzes, Heinz Fromm, musste ebenso seinen Hut nehmen wie Sachsens Verfassungsschutzpräsident Reinhard Boos und Thüringens Verfassungsschutzpräsident Thomas Sippel. Auch der Rücktritt von BKA-Präsidente Jörg Ziercke ist keineswegs ausgeschlossen. Mal sehen, wer noch über die Klinge springen muss. Vielleicht demnächst sogar Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU), denn er ließ mehrfach NSU-Akten schreddern und musste anschließend kleinlaut die Verbreitung von Falschinformationen eingestehen. Hier drängt sich abermals der Verdacht auf, dass nicht aufgeklärt, sondern etwas vertuscht werden soll. Bloß was? Gibt es bei uns tatsächlich ebenfalls den "Tiefen Staat"? Auch Friedrichs Entscheidung, Hans-Georg Maaßen zum Nachfolger Fromms zu machen, wird - gelinde gesagt - als äußerst unglücklich bezeichnet.

Es geht um den Fall Murat Kurnaz. Der in Bremen geborene Türke saß jahrelang unschuldig im Gefangenenlager Guantánamo, nachdem er 2001 in Pakistan festgenommen wurde. "Die zuständige Richterin Green stellte am 31. Januar 2005 fest, dass die Einstufung Murat Kurnaz' als 'ungesetzlicher Kombattant' unbegründet und somit seine Inhaftierung rechtswidrig gewesen sei. Die Richterin, die Zugang zu Kurnaz' gesamter Gefangenenakte inklusive der Geheimhaltung unterliegenden Informationen hatte, stellte fest, es gebe keine Beweise, dass Kurnaz Verbindungen zu al-Qaida gehabt oder eine besondere Bedrohung der USA dargestellt habe. (...) Nach Auffassung der deutschen vernehmenden Beamten war Kurnaz nie terroristisch tätig, sondern nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Da die US-Stellen im Grunde diese Auffassung teilten, sollen die Vereinigten Staaten kurz darauf Kurnaz' Rückkehr nach Deutschland angeboten haben. Die deutschen Behörden hätten jedoch eine Abschiebung in die Türkei, nicht aber nach Deutschland befürwortet. (...) Der damalige Innensenator Bremens, Thomas Röwekamp [CDU], kündigte 2004 an, dass Kurnaz nach seiner Freilassung nicht wieder nach Deutschland einreisen dürfe, da seine unbefristete Aufenthaltserlaubnis wegen eines mehr als sechsmonatigen Auslandsaufenthalts erloschen sei. Kurnaz habe versäumt, die in solchen Fällen vorgeschriebene Verlängerung der Wiedereinreisefrist zu beantragen." [1] Dass sich Kurnaz angesichts seiner rechtswidrigen Inhaftierung auf Kuba gar nicht in Deutschland aufhalten respektive die Verlängerung der Wiedereinreisefrist beantragen konnte, spielte offenbar keine Rolle. Ein menschenverachtender Zynismus.

Hans-Georg Maaßen hat dazu als zuständiger Referatsleiter im Innenministerium das Rechtsgutachten geliefert, das er allerdings noch heute verteidigt: "In der Gutachtensache, sagt Maaßen, habe er sich nichts vorzuwerfen. Er habe damals lediglich die rechtliche Regelung des Ausländerrechts beschrieben. Und die sei eben so strikt: Wer länger als sechs Monate im Ausland ist, dessen Aufenthaltsgenehmigung erlischt." [2] "Die ehemalige Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) (...) bezeichnet das Rechtsgutachten als 'falsch, empörend und unmenschlich'. Ulrich Battis, Rechtsprofessor an der Humboldt-Universität, hält das Gutachten für zweifelhaft und politisch 'völlig daneben'." [3] Außerdem liegt diesbezüglich ein rechtskräftiges Urteil des Verwaltungsgerichts Bremen vor, das 2005 unter Abwägung der Gesamtumstände zu der Feststellung gelangte: Die unbefristete Aufenthaltsgenehmigung von Murat Kurnaz ist nicht erloschen. [4] Doch auch das lässt Hans-Georg Maaßen nicht gelten. Die Bremer Entscheidung spiele keine Rolle, da sie "singulär" war. Es habe für das Urteil keine Rechtsgrundlage gegeben, es sei den politischen Umständen geschuldet gewesen. [5] Interessant, was der designierte Verfassungschutzpräsident über die Gewaltenteilung im Allgemeinen und über die Gültigkeit von Urteilen im Besonderen denkt. "Ein Verfassungsschutzpräsident, der den Geist der Verfassung nicht kennt und keine Kraft zur Reue findet, ist eine zweifelhafte Besetzung. Mit solchen Defiziten kann man kein Amt leiten", kommentiert die Frankfurter Rundschau trocken. [6] Peinlichkeit am Rande: Die Freie Universität Berlin hat es wegen dem Rechtsgutachten abgelehnt, Maaßen zum Honorar-Professor zu ernennen.

Die Spitzen unserer Sicherheitsdienste erscheinen momentan der Öffentlichkeit entweder als inkompetente Trottel oder - noch schlimmer - als heimlich Kumpane der rechten Verfassungsfeinde. Wenn selbst der radikalen Gedankenguts völlig unverdächtige und gemeinhin als besonnen geltende CDU-Abgeordnete Clemens Binninger, früher einmal selbst Kriminalbeamter, im Untersuchungsausschuss angesichts der eklatanten Fehlleistungen die Contenance verliert, was sollen dann erst die Bürger denken? "Binninger ist fassungslos darüber, dass die sogenannte Tatmittelmeldedatei, die man mit Daten wie Zünder, Sprengstoff und so weiter füttert, nicht benutzt worden sei. Hätte man diese Datei bemüht, hätte das Programm drei Namen ausgespuckt, nämlich: Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe. (...) Näher kann man einem Täter nicht sein! Ich sage das als ehemaliger Polizist: So nah, wie Sie den Tätern waren, kommt man als Ermittler den Tätern nie wieder! Mehr Hinweise wird es nie mehr geben!" [7] Versagen auf ganzer Linie also. Dilettantismus oder Böswilligkeit? Genau das soll der Untersuchungsausschuss herausfinden.

Hinzu kommt die unfassbare Arroganz der Spitzenbeamten:
  • BKA-Chef Ziercke wird vom Untersuchungsausschuss zurechtgewiesen. "So können Sie nicht mit mir verfahren!", soll er gebrüllt haben. "Er wurde freundlich, aber sehr bestimmt darauf verwiesen, dass er hier als Zeuge befragt werde, dass er antworten müsse. Mit einer bloßen Stellungnahme sei es nicht getan. 'Wir fragen Sie, und Sie antworten, und wenn wir noch einmal fragen, dann antworten Sie wieder.'" [8]
  • Der ehemalige Thüringer Verfassungsschutz-Chef Helmut Roewer ist nach Aussage seiner früheren Untergebenen "im Hausflur des Dienstgebäudes Fahrrad gefahren oder im Sommer barfuß durch das Haus gelaufen". [9] Die schmutzigen Füße habe Roewer dann bei Besprechungen mitunter auf den Schreibtisch gelegt. Wie lautet gleich nochmal das gebräuchlichste Synonym für "haarsträubend"? Empörend? Unfassbar? Skandalös? Erschütternd? Langsam fehlen einem die passenden Worte. Ist denn seinerzeit keiner der hochrangigen Beamten auf die naheliegende Idee gekommen, Roewers bizarres Verhalten einfach nicht mehr länger hinzunehmen? Offenbar nicht. Unglaublich! Das grenzt ja fast schon an Kadavergehorsam. Da hat wohl die notwendige Courage gefehlt. Wie wollen diese Herren den Staat schützen, wenn sie sich noch nicht einmal vor ihrem sonderbaren Chef schützen können?
  • Der damalige hessische Verfassungsschutzdirektor Lutz Irrgang ist 2006 nach dem Mord an dem Internetcafebetreiber Halit Yozgat zu einem Treffen nach Kassel eingeladen worden. "Doch Irrgang weigerte sich anzureisen. Mit dem Polizeipräsidenten würde er ja noch sprechen, ließ er wissen, aber doch nicht mit einfachen Ermittlern. Da fehle die 'Ebenenadäquanz'. So jedenfalls steht es in einem Vermerk der Kasseler Polizei, der bei der (...) Sitzung des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestags verlesen wurde." [10] Der geneigte Leser greift sich buchstäblich an den Kopf, immerhin ging es um die Aufklärung eines Kapitalverbrechens, da sollte man derartige persönliche Befindlichkeiten im Interesse der Aufklärung doch für ein paar Stunden hintanstellen. Oder ging es gerade darum: die Aufklärung zu behindern bzw. zu verhindern? Der Untersuchungsausschuss hat enorm viel aufzuarbeiten.
Sind das wirklich die Besten der Besten? Sieht so unsere Beamten-Elite aus, denen man die Leitung der wichtigsten Sicherheitsbehörden anvertraut hat? Es ist kaum zu glauben, aber anscheinend wahr. Auch Fromms Vorgänger als Verfassungsschutzpräsident, Peter Frisch, hinterließ im Januar bei Günther Jauchs Talkshow ein ziemlich konfuses Bild. Millionen Zuschauer registrierten erstaunt, auf welch dürftigem Niveau sich dessen Argumentation bewegte. Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung, ehedem in Bayern als Staatsanwalt und Richter tätig, hatte erkennbar Mitleid mit dem einstigen Spitzenbeamten. Frisch hat dem Verfassungsschutz mit seinem Auftritt einen Bärendienst erwiesen. Kurz gesagt, der Eindruck war verheerend.

Petra Pau, Bundestagsvizepräsidentin und Abgeordnete der Linken, wollte unlängst wissen, was vom Verfassungsschutz über sie im letzten Jahr gespeichert wurde. "Zum einen sei ein Eintrag auf ihrer Internetseite www.petrapau.de in ihre Personenakte aufgenommen worden. Dort habe Pau im Februar 2011 die Förderpraxis der Bundesregierung für Initiativen gegen den Rechtsextremismus als 'verordneten Antifaschismus von Regierungs Gnaden' bezeichnet." Und: "Sie habe anlässlich des Berliner Wahlkampfs 'die Partei Die Freiheit als NPD light kritisiert', heißt es in dem Schreiben." [11] Bahnbrechende Erkenntnisse also. Und, was die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland angeht, zweifellos von herausragender Bedeutung. (Achtung: Ironie!) Wenn einem angesichts der NSU-Pannen nicht der Kloß im Halse stecken bleiben würde, müsste man darüber laut lachen. Mit der Speicherung von Belanglosigkeiten über eine Abgeordnete der Linken wird der Rechtsstaat gerettet, da kann man gegenüber einer rechten Terrorzelle auch mal alle fünfe gerade sein lassen, oder nicht? Aber das meinen die beim Verfassungsschutz bestimmt ernst. Petra Pau meint: "Die haben sie doch nicht alle." Dem ist nichts hinzuzufügen.

Freilich würde man den Sicherheitsbehörden unrecht tun, sollte man den jetzt gewonnenen Eindruck auf alle Mitarbeiter übertragen. Als die Behörden 2007 die sogenannte "Sauerland-Gruppe" auffliegen ließen, wurden sie überall für ihre hervorragende Arbeit und umsichtige Vorgehensweise gelobt. Zu Recht, wie ich meine. Die Annahme, dort säßen ausnahmslos Stümper, ist selbstverständlich falsch. Gewiss, das System bedarf einer gründlichen und tiefgreifenden Reform. Dass bei der Besetzung der Spitzenpositionen etwas nicht stimmen kann, ist schließlich evident. Weniger Selbstherrlichkeit, mehr Kompetenz, lautet eine der dabei zu ziehenden Konsequenzen. Sätze wie "Mich dürfen Sie so etwas nicht fragen, ich bin kein Praktiker, ich leite nur eine Behörde" (O-Ton Heinz Fromm vor dem Untersuchungsausschuss) sind blamabel. [12] Und wir brauchen einen Verfassungsschutz, der zweifelsfrei auf dem Boden und im Geiste der Verfassung arbeitet. Wer etwa allein die Kritik am Kapitalismus undifferenziert mit Verfassungsfeindlichkeit gleichsetzt, hat Nachhilfeunterricht nötig. Das Grundgesetz sagt: "Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat." (Artikel 20) Über den Kapitalismus sagt es hingegen nichts, die Wirtschaftsordnung ist nämlich kein Bestandteil unserer Verfassung. Zum Wohle der Allgemeinheit ist sogar eine Enteignung zulässig. (Artikel 14) Demzufolge kann man gleichzeitig für die Verfassung und gegen den Kapitalismus sein. Wenn man beim Verfassungsschutz solch feine, aber durchaus wesentliche Unterscheidungsmerkmale erkennen und befolgen würde, hätte man sicherlich mehr Zeit für die wirklich wichtigen Aufgaben. Petra Paus Äußerung zur Förderpraxis der Bundesregierung zu speichern, gehört fraglos nicht dazu.

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[1] Wikipedia, Murat Kurnaz
[2] taz vom 19.07.2012
[3] taz vom 20.07.2012
[4] Verwaltungsgericht Bremen, Urteil vom 30.11.2005, Az. 4 K 1013/05, PDF-Datei mit 43 kb
[5] taz vom 20.07.2012
[6] Frankfurter Rundschau vom 21.07.2012
[7] Frankfurter Rundschau vom 20.07.2012
[8] Frankfurter Rundschau vom 14.07.2012
[9] Mitteldeutscher Rundfunk vom 19.07.2012
[10] Frankfurter Rundschau vom 02.07.2012
[11] taz vom 20.07.2012
[12] Frankfurter Rundschau vom 20.07.2012