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26. August 2012, von Michael Schöfer
Dummheit und Täuschung liegen nah beieinander


Manchmal ist es praktisch unmöglich, beides voneinander zu trennen. Sind die, die uns etwas erzählen, einfach nur grenzenlos dumm oder ungeheuer raffiniert? Und sind wir, das geneigte Publikum, allzu leichtgläubig? Wie dem auch sei, jedenfalls erstaunt es immer wieder, wie sehr gerade auf dem erfahrungsgemäß äußerst volatilen Gebiet der Ökonomie dämlichen Modetrends nachgerannt wird. Einst waren die Amerikaner unser Vorbild, danach die Japaner. Beides hatte sich angesichts der bitteren Realität irgendwann erledigt, flugs kreierte daraufhin ein kluger Kopf das BRIC-Konzept. Jim O’Neill, Chefvolkswirt von Goldman Sachs, wollte uns weismachen, die Zukunft läge in den BRIC-Staaten (ein Akronym für Brasilien, Russland, Indien und China).

2007 prognostizierte die Bank, dass das Bruttoinlandsprodukt der Volksrepublik China im Jahr 2050 bei 70,7 Billionen US-Dollar liegen würde. Die USA hätten spätestens zu diesem Zeitpunkt den ersten Platz auf der Rangliste der größten Volkswirtschaften eingebüßt und lägen mit 38,5 Billionen US-Dollar auf Platz zwei, gefolgt von Indien mit 37,7 Billionen. Deutschland fiele weiter nach hinten und käme nur noch auf Platz zehn. Glaubte man Goldman Sachs, würde China im Jahr 2050 die Welt dominieren. [1] Doch ich fragte mich schon vor zwei Jahren, ob das wirklich realistisch ist.

"Ist es realistisch, dass das Bruttoinlandsprodukt der Volksrepublik in vierzig Jahren sogar über dem jetzigen Weltinlandsprodukt liegt (2008: 60,9 Billionen US-Dollar)? Wohl kaum. Zumindest nicht, wenn das Ganze auf einem mit dem heutigen Zustand vergleichbaren Effizienzniveau basiert. Bekanntlich gehen die wichtigsten Rohstoffe zur Neige, viele davon werden 2050 so gut wie erschöpft bzw. nahezu unerschwinglich sein. China verbrauchte 2008 401 Mio. Tonnen Erdöl. Unterstellt, der chinesische Energiemix bliebe gleich, würde der Erdölverbrauch bis 2050 auf wahnwitzige 6.442,8 Mio. Tonnen steigen - 63,6 Prozent mehr als der heutige Erdölverbrauch der gesamten Welt (3.939,3 Mio. t). Mit anderen Worten: Vollkommen unmöglich. (...) Prognosen zufolge sollen in China im Jahr 2050 600 Mio. PKW zugelassen sein - das entspräche dem gegenwärtigen globalen PKW-Bestand. (...) Der CO2-Ausstoß (Stichwort: globale Erwärmung) wäre, sollte das Goldman Sachs-Szenario tatsächlich eintreten, immens. China, mittlerweile der größte Treibhausgas-Emittent der Welt, hat 2008 6,8 Mrd. Tonnen CO2 in die Atmosphäre geblasen. Bei gleicher Energieeffizienz würde China in vierzig Jahren 109 Mrd. Tonnen ausstoßen - fast das Vierfache der globalen Emissionen des Jahres 2008." [2]

Das schlichte Extrapolieren der heutigen Wachstumsraten schien mir in hohem Maße fragwürdig zu sein. Keineswegs nur deshalb, weil Jim O’Neill, der Erfinder des BRIC-Konzepts, noch Ende 2006 im Brustton der Überzeugung herumtönte, eine globale Rezession sei nicht in Sicht. [3] 2007 kam dann die Subprime-Krise. Im Nachhinein ist man bekanntlich immer schlauer. Aber wenn das Publikum mit von Dollarzeichen geblendeten Augen den Ökonomie-Gurus förmlich an den Lippen hängt, darf man deren Fehlprognosen m.E. zu Recht heranziehen. Vor allem, wenn sie weiterhin hanebüchenen Unsinn von sich geben. Wie ich nämlich vor kurzem lesen musste, ist O’Neill inzwischen von seinem BRIC-Konzept abgerückt. "Jim O’Neill will von diesen Ländern nichts mehr wissen. Er steht jetzt auf MIST: Mexiko, Indonesien, Südkorea und die Türkei." [4] Bei den BRIC-Staaten würde sich das Wachstum abschwächen und die Investoren würden Gelder abziehen. Das ging aber schnell. Neues Motto: "Vergessen Sie Bric, kaufen Sie Mist" [sic!] [5]

Andere Propheten stehen ihm in nichts nach: Dem "Wealth Report" zufolge soll Nigerias Wirtschaft bis 2050 im Durchschnitt jährlich um 8,5 Prozent wachsen, was den westafrikanischen Staat bis dahin angeblich auf die sechste Stelle der reichsten Nationen katapultieren wird. [6] Nigeria weit vor Deutschland, das 2050 nicht einmal mehr unter die ersten Zehn kommt? 2010 hatte das Land 152,2 Mio. Einwohner [7] und war damit, was die Bevölkerungsdichte angeht, mit 164,8 Einwohnern pro qkm fast so dicht besiedelt wie die Schweiz (184,7 Einw. pro qkm). [8] Nach Schätzungen der Vereinten Nationen wächst die Bevölkerung Nigerias bis 2050 auf 390 Mio. und bis 2100 auf 730 Mio., das wären 422 bzw. 790 Einwohner pro qkm. [9] Nigeria im Jahr 2050 annähernd doppelt so dicht besiedelt wie die heutige Bundesrepublik (230,5 Einw. pro qkm) und viel, viel reicher? Erstaunlich. Zwar besitzt Nigeria große Erdölvorkommen, aber das allein ist kein Garant für den Wohlstand einer Nation.

Die Erdölreserven Nigerias [10] betrugen im Jahr 2010 4.960 Mio. t, bei einer gleichbleibenden Förderung von 117,2 Mio. t reicht das rechnerisch ganze 42 Jahre lang. [11] "Etwa 90 % der Exporterlöse des Landes und 80 % der Staatseinnahmen stammt aus der Erdölförderung." [12] Nigeria, dessen Reichtum höchst ungleich verteilt ist, wird bei ungebremstem Bevölkerungswachstum erhebliche Probleme haben, überhaupt die politische Stabilität aufrechtzuerhalten. Schon die Ernährungsfrage dürfte die Regierung vor große Probleme stellen. Und just 2050, wenn Nigeria zur sechstgrößten Volkswirtschaft der Welt aufgestiegen sein soll, sind die Erdöl-Lagerstätten leer. Die Erdölressourcen [13] gewähren dem Land einen Aufschub von höchstens 26 Jahren. Spätestens 2080 ist also Schluss. Ob Nigeria die bis dahin auf 606 Mio. Menschen angewachsene Nation mit erfolgreichen Aktivitäten in anderen Branchen zufriedenstellend versorgen kann, ist unsicher. Aber wie wahrscheinlich ist das? Bislang haben Länder, die überwiegend von einem einzigen Rohstoff abhängen, kaum jemals eine diversifizierte Wirtschaft aufgebaut. Oft versank das eingenommene Geld im Prunk und Protz einer korrupten Elite. Prognosen sind bekanntlich schwierig, vor allem solche über die Zukunft. Nigeria wäre freilich nicht die erste Seifenblase, die zerplatzt.

Wie man unschwer erkennt, sind Vorhersagen über ökonomische Trends mit allergrößter Vorsicht zu genießen. Meist tummeln sich die Ökonomie-Gurus, siehe Jim O’Neill, schon nach kurzer Zeit in anderen Weltregionen und strafen damit ihre früheren Aussagen Lügen. In der Regel geht es ohnehin bloß darum, geldgierigen Zeitgenossen das Kapital aus der Tasche zu ziehen. Goldman Sachs wird, völlig unabhängig vom Eintreffen der jeweiligen Prognosen, mit dem MIST-Konzept sicherlich genauso viel Profite machen wie bis dato mit dem BRIC-Konzept. Hauptsache die Fonds verkaufen sich wie warme Semmeln. Sind Menschen wie O’Neill dumm oder sind sie raffiniert? Schwer zu sagen. Es ist nur immer wieder verblüffend, wie viele auf deren fragwürdige Konzepte hereinfallen.

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[1] Goldman Sachs, Global Economics Paper No: 153, The N-11: More Than an Acronym, Seite 18, PDF-Datei mit 832 kb
[2] siehe Fragwürdige Wachstumsprognosen vom 31.01.2010
[3] Fundresearch vom 28.11.2006
[4] taz vom 20.08.2012
[5] Handelsblatt vom 08.08.2012
[6] Knight Frank/Citi Private Bank, THE WEALTH REPORT 2012, PDF-Datei mit 7,1 MB, Seite 11
[7] Wikipedia, Nigeria
[8] Wikipedia, Liste der Staaten der Erde
[9] United Nations, Department of Economic and Social Affairs, Population Division
[10] die zu gegenwärtigen Preisen und mit heutigen Fördertechnologien gewinnbare Menge an Rohstoffen
[11] Wikipedia, Erdöl/Tabellen und Grafiken
[12] Wikipedia, Nigeria
[13] die nachgewiesene Menge der Rohstoffe, die derzeit technisch und/oder wirtschaftlich nicht gewonnen werden kann sowie die nicht nachgewiesene, aber geologisch mögliche, zukünftig gewinnbare Menge einer Rohstoff-Lagerstätte