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08. September 2012, von Michael Schöfer
Lediglich eine Atempause


Nach der Entscheidung der EZB, unter bestimmten Umständen auf dem Sekundärmarkt in unbegrenzter Höhe Staatsanleihen der Krisenländer aufzukaufen, erholen sich die Börsenkurse: Der Dax stieg erstmals wieder über 7.200 Punkte. Draghis Versprechen sorge für Kauflaune, liest man allenthalben, den Börsianern sei ein Stein vom Herzen gefallen. Auch der Euro-Kurs erholte sich. Die Ängste der Anleger sind wenigstens zum Teil geschwunden: Spanien, Italien und Portugal müssen weniger Zinsen zahlen. Ist das schon das Ende der Spekulation gegen die Eurozone? Der Entschluss der EZB war, insbesondere vor dem Hintergrund des eklatanten Versagens der nationalen Regierungen, zweifellos ebenso notwendig wie richtig. Das Aufatmen, das überall spürbar ist, scheint also berechtigt zu sein. Doch man sollte sich nicht täuschen lassen, das ist lediglich eine Atempause, denn die eigentlichen Ursachen der Krise sind ja dadurch keineswegs beseitigt. Im Gegenteil, die rigide Sparpolitik geht unvermindert weiter und hat selbstverständlich entsprechend negative Konsequenzen. Überdies sind Aktienkurse, was das Geschehen in der Realwirtschaft angeht, wenig aussagekräftig. Vom Wohlergehen der Bevölkerung ganz zu schweigen.

Die EZB erwartet in diesem Jahr in den 17 Euro-Staaten einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts von durchschnittlich 0,4 Prozent. Ganz hart trifft es abermals Griechenland, die Wirtschaft des Ägäis-Staates soll 2012 noch einmal um 7 Prozent schrumpfen. In Italien befürchtet man einen Rückgang von ca. 2 Prozent, und in Spanien wird ein Minus von 1,5 Prozent erwartet. Auch Deutschland und Frankreich nähern sich den Prognosen zufolge der Rezession. Voraussetzung für die Hilfe der EZB ist, dass sich die Länder, denen durch den Ankauf ihrer Staatsanleihen geholfen wird, unter den Euro-Rettungsschirm begeben. Woher das Wachstum für den Abbau der Staatsschulden kommen soll, ist daher weiterhin offen. Der Grundsatz, dass man sich nicht aus der Krise sparen kann, ist ja nach wie vor gültig. Gewiss, die Refinanzierung wird momentan leichter, aber die Staatshaushalte werden bis auf weiteres Defizite aufweisen. Die rigide Sparpolitik würgt die Wirtschaft (= die Staatseinnahmen) ab, die steigende Arbeitslosigkeit erfordert höhere Ausgaben. Ein Teufelskreis. Es sei denn, man drückt das Niveau der Sozialleistungen noch stärker nach unten, was allerdings die politische Stabilität gefährdet.

Beispiel Griechenland: "Im Juni war fast jeder vierte Grieche (24,4 Prozent) arbeitslos gemeldet - im Vergleich zum Vorjahr ist dies ein Anstieg um 42 Prozent. (...) Insgesamt waren im Juni 1,2 Millionen Griechen ohne Arbeit. Besonders betroffen sind junge Arbeitnehmer. Bei den 15 bis 24-Jährigen liegt die Quote bei 55 Prozent" [1] Die rechtsradikale Partei "Goldene Morgendämmerung" kommt nach den neuesten Umfragen auf 10,4 Prozent (Parlamentswahl 17.06.2012: 6,9 %) und würde derzeit bei Wahlen die sozialdemokratische PASOK vom dritten Platz verdrängen. Die konservative Nea Dimokratia käme auf 25 Prozent (29,7 %), die SYRIZA (Vereinte Soziale Front) auf 24 Prozent (26,9 %) und die PASOK nur auf 8 Prozent (12,3 %). Nach der Wirtschaft kollabiert offenbar das politische System.

Bei einer Verschärfung der Krise könnte die bisherige politische Elite Europas schwer in Bedrängnis geraten, denn Krisen stärken bekanntlich vor allem die Parteien am Rande des politischen Spektrums. Rechtspopulisten, wie sie heute bereits in Ungarn an der Macht sind (Fidesz), dürften von der prekären Lage der Bevölkerung stark profitieren. Die Gefahr, dass der Krise am Ende auch die Demokratie zum Opfer fällt, ist nicht von der Hand zu weisen. Genau das ist ja das Haarsträubende am Verhalten von Merkel & Co.: Die politische Elite unterstützt eine fatale Schock-Therapie, die sie zum Schluss selbst hinwegfegen könnte. Später werden sich die Historiker vielleicht kopfschüttelnd darüber wundern, warum uns die heutige Politikergeneration sehenden Auges in die Katastrophe geführt hat. Warnungen gab es ja mehr als genug. Wenn die Atempause, die uns die EZB gewährt, nicht genutzt wird, sieht es düster aus. Wir brauchen jetzt eine konsequente Umverteilung von oben nach unten sowie eine grundlegende Reform der europäischen Institutionen hin zu den Vereinigten Staaten von Europa. Und wir brauchen Investitionsprogramme anstatt Ausgabenkürzungen. Kosmetische Reparaturen zur Rettung der Demokratie sind hingegen absolut unzureichend. Versagt die politische Elite, könnte der gesamte Kontinent für Jahrzehnte in einem tiefen Tal versinken, das von Massenarmut und autoritären Regierungsmehrheiten geprägt ist. Es geht folglich nicht bloß um unsere Spargroschen auf dem Bankkonto, es steht wesentlich mehr auf dem Spiel.

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[1] Stern.de vom 06.09.2012