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02. November 2012, von Michael Schöfer
Kurz raus aus dem Hamsterrad


Beruflich wie privat nimmt die Beanspruchung ja ständig zu. Man hat das Gefühl, pausenlos unter Druck zu stehen. Nehmen wir einmal als Beispiel die Verlockungen des Kapitalismus: Kürzlich habe ich mir ein iPad zugelegt, obwohl ich lange Zeit behauptete, dergleichen überhaupt nicht zu brauchen. Doch mittlerweile lese ich meine Tageszeitung nur noch als ePaper, da war die Anschaffung eines Tablets gewissermaßen Pflicht. Wer liest schon stundenlang am PC? Niemand. Man kann es sich mit dem iPad auf dem Sofa ziemlich bequem machen. Vielleicht zu bequem. Und jetzt ist man sogar unterwegs permanent im Netz, kann nach Belieben surfen und mailen. Das hat Vor-, aber bedauerlicherweise auch Nachteile. Früher, in den seligen Zeiten der langsam aussterbenden Printausgabe (manche sagen dazu neuerdings abschätzig "Holzzeitung"), habe ich nur eine einzige Tageszeitung gelesen. Die, die morgens im Briefkasten lag. Heute lese ich online noch etliche weitere Blätter. Nachteil: Die Möglichkeit, nichts zu versäumen, ist inzwischen zur Pflicht mutiert, wirklich nichts mehr zu versäumen. Trotzdem hat der Tag wie ehedem lediglich 24 Stunden. Leider. Unausweichliche Folge: Das Hamsterrad dreht sich immer schneller, der Druck nimmt zu, weil man in diese 24 Stunden möglichst viel reinpacken will. Häufig allzu viel.

Kurz raus aus dem Hamsterrad, dachte ich deshalb vor kurzem. Weil ich mir die Methode Hape Kerkelings ("Ich bin dann mal kurz weg") nicht antun wollte, bleibt einem als normaler Arbeitnehmer bloß der übliche Kurzurlaub. Immerhin. So bin ich in den letzten zwei Wochen auf Fuerteventura kreuz und quer durch die Wüste gestapft. Ohne iPad, versteht sich. Raus aus dem Hamsterrad bedeutete für mich: Urlaub ohne Internetanschluss und ohne Zeitung. Wäre die Welt untergegangen, ich hätte es nicht bemerkt, denn in der Wüste zwitschern nicht einmal die Vögel, von Twitter ganz zu schweigen. Oder sagen wir, ich hätte den Weltuntergang erst abends wahrgenommen. In der Moderne ist das Hamsterrad nämlich allgegenwärtig, selbst am abgelegensten Urlaubsort, und zwar in Form der guten alten Tagesschau. Sat-TV macht's möglich. Es ist eigenartig, wenn das Weltgeschehen plötzlich auf eine Viertelstunde pro Tag zusammenschnurrt. Einerseits ist die Komprimierung wohltuend, andererseits hat man - siehe oben - ständig das Gefühl etwas zu verpassen, weil die Tagesschau naturgemäß nur an der Oberfläche kratzt. Dennoch ist es erstaunlich, wie wenig von alledem im Gedächtnis hängen bleibt. Hauptsächlich Peinlichkeiten.

Horst Seehofer zum Beispiel. Erst stellte er sich ostentativ vor seinen Parteisprecher und sah in dessen Anruf bei der ZDF-Redaktion keine versuchte Einflussnahme auf die vom Grundgesetz garantierte Pressefreiheit (was Strepp erkläre, sei für ihn Realität), anderntags bezeichnete er den Rücktritt von Hans Michael Strepp als "unvermeidlich" sowie "richtig und notwendig". Wow, das ging aber schnell. Kaum einem kommt gegenwärtig Konrad Adenauers Spruch "Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern" liebenswürdiger über die Lippen als dem CSU-Chef. Dafür, dass solche Liebenswürdigkeiten den Wahlsieg bei den nächsten Landtagswahlen garantieren, würde ich allerdings nicht meine Hand ins Feuer legen.

Oder die "Affäre" Steinbrück: Der Kanzlerkandidat der SPD hat endlich die Liste seiner Nebeneinkünfte [1] veröffentlicht. Danach hat Peer Steinbrück im Zeitraum vom 12.11.2009 bis zum 24.09.2012 insgesamt 89 Vorträge gehalten, für die er ein Honorar in Höhe von 1,25 Mio. Euro erhielt. Interessant, wie viel die Erkenntnisse eines ehemaligen Bundesfinanzministers wert sind. Zumindest wissen wir jetzt: Die Finanzindustrie kann es sich nach wie vor erlauben, aufs Sparen zu verzichten - bei der großzügigen Entlohnung. Die Vorwürfe, Steinbrück habe deswegen sein Bundestagsmandat vernachlässigt, entbehren natürlich ebenso jeder Grundlage wie der Verdacht der Abhängigkeit von den freigiebigen Sponsoren. Im Gegenteil, da Abgeordnete ohnehin immer die gleichen Reden halten, hat uns Peer Steinbrück mit seiner Minimax-Strategie (minimaler Aufwand, maximaler Ertrag) keineswegs verblüfft. Er hat damit vielmehr bewiesen: Peer Steinbrück kann Kanzler. Und anschließend, siehe Ex-Kanzler Gerhard Schröder (Jahreseinkommen laut Manager Magazin angeblich 1,5 Mio. Euro), wird’s erst richtig lukrativ. Peinlich daran ist allein das Rumgeeiere von Union und FDP, auf die jetzt die von ihnen selbst losgetretene Kampagne zurückfällt. Steinbrücks Transparenz setzt unerwartet Maßstäbe, denen sie aus bekannten Gründen (die größten Kritiker der Elche...) keinesfalls nacheifern wollen.

Peinlich war auch der Wahlsieg von Fritz Kuhn bei den OB-Wahlen in Stuttgart - nicht für die Grünen, sondern für die CDU. Die Konservativen sind mit der verlorenen Landtagswahl im Jahr 2011 in ein tiefes Loch gefallen, aus dem sie so schnell nicht wieder herauskommen. Jedenfalls nicht mit solchen Phrasen: "Zwei Grüne sind zu viel", behauptete CDU-Landeschef Thomas Stobl nach dem ersten Wahlgang und meinte damit die beiden wichtigsten Ämter im Südwesten: Ministerpräsident und Oberbürgermeister der Landeshauptstadt (ein Grüner als Chef in der Villa Reitzenstein und ein Grüner als Chef im Stuttgarter Rathaus). Erstens sehen stichhaltige Argumente anders aus, zweitens hat es den stets braungebrannten CDU-Politiker seinerzeit, als dort noch seine Parteifreunde Stefan Mappus und Wolfgang Schuster das Sagen hatten, in keinster Weise gestört, beides in CDU-Hand zu wissen. Und wie ich nach meiner Rückkehr aus dem Urlaub erfahren musste, will die Stuttgarter Kulturbürgermeisterin Susanne Eisenmann (CDU) jetzt sogar Günther Oettinger als Retter zurückholen. [2] Offenbar hat sie dessen Peinlichkeiten verdrängt (u.a. "Hans Filbinger war kein Nationalsozialist", "Das Blöde ist, es kommt kein Krieg mehr. Früher, bei der Rente oder der Staatsverschuldung haben Kriege Veränderungen gebracht. Heute, ohne Notsituation, muss man das aus eigener Kraft schaffen", "Paris ist ein Kopfbahnhof. Warum? Weil es westlich von Paris keine Menschen mehr gibt, sondern nur Kühe und Atlantik"). [3] Na, dann mal viel Spaß, liebe Südwest-CDU.

Jetzt, nach der Lektüre der Zeitungen der letzten 14 Tage, bin ich hoffentlich wieder auf dem aktuellen Stand. Mit einem Satz: Das Hamsterrad hat mich wieder.

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[1] SPD, PDF-Datei mit 280 kb
[2] Kontext vom 24.10.2012
[3] Wikipedia, Günther Oettinger