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02. Dezember 2012, von Michael Schöfer
Bloß ein Wimpernschlag


"Erwarte nichts vom Menschen, wenn er für seinen Lebensunterhalt arbeitet und nicht für seine Ewigkeit." (Antoine de Saint-Exupéry) Der Homo sapiens, stieg er nicht erst vergangenes Jahr irgendwo in Afrika von den Bäumen herab? Und hat er nicht erst gestern die Industrialisierung erfunden? Zugegeben, gemessen an einem Menschenleben liegen riesige Zeiträume zwischen diesen Ereignissen und der Gegenwart. Doch im Verhältnis zur Erdgeschichte sind es nur Wimpernschläge. Der Mensch arbeitet für seinen Lebensunterhalt und denkt dabei nicht an die Ewigkeit. Vielleicht sollte man erwähnen, dass er in seinem Tun nicht einmal an die nahe Zukunft denkt. An eine Zukunft, die im Verhältnis zur Erdgeschichte ebenfalls bloß einen Wimpernschlag entfernt ist.

In Doha (Katar) sitzen sie jetzt wieder zusammen und beraten über das Weltklima. Vermutlich abermals erfolglos, dabei sind die Meldungen besorgniserregend: 34 Mrd. t CO2 blies der angeblich intelligente Primat im Jahr 2011 in die Atmosphäre - so viel wie nie zuvor. [1] Tendenz: stark steigend, 2020 sollen es schon 40 Mrd. t sein. Und "in den ausgewiesenen Reserven der Energiekonzerne stecken [noch] Emissionen von 2795 Milliarden Tonnen CO2." [2] Das Zwei-Grad-Ziel (Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur bis 2100) sei aber nur zu erreichen, wenn wir bis 2050 nicht mehr als 565 Mrd. t CO2 emittieren, warnen Klimaforscher. Bei gleichbleibenden Emissionen hätten wir die erlaubten 565 Gigatonnen jedoch bereits 2029 erreicht, bei steigenden Emissionen entsprechend früher. Da wir in 17 Jahren wohl immer noch CO2 in die Atmosphäre blasen werden, ist das Zwei-Grad-Ziel vollkommen unrealistisch. Wir bewegen uns vielmehr auf einen Wert von 4 Grad oder darüber zu. Mit anderen Worten: Der Klimawandel ist unausweichlich.

Mit fatalen Folgen: Seit 1992 ist das Eis in Grönland pro Jahr im Durchschnitt um 152 Mrd. t geschwunden, in der Antarktis waren es 71 Mrd. t. Alles in allem sind seitdem 4.260 Mrd. t weggeschmolzen und ins Meer geflossen. [3] "Wenn sich die Erwärmung bei 3 °C gegenüber dem vorindustriellen Wert stabilisiert, wird eine Meeresspiegelerhöhung bis zum Jahr 2300 um 2,5 bis 5,1 m prognostiziert." [4] Je höher die Temperaturen steigen, desto schneller schmelzen die Eispanzer. Das, was New York City kürzlich beim Wirbelsturm "Sandy" erlebte, nämlich dass die U-Bahn-Schächte volllaufen und Teile Manhattans unter Wasser stehen, wird 2300 der Normalfall sein.

Doch damit ist lange noch nicht Schluss, denn die Durchschnittstemperaturen werden voraussichtlich auch danach weiter ansteigen. Grund: Positive Rückkopplungseffekte. Taut der Permafrostboden Nordamerikas und Eurasiens auf, entweichen große Mengen Treibhausgabe (Kohlendioxid, Methan). Dadurch steigt die globale Durchschnittstemperatur noch stärker an, was wiederum mehr Treibhausgase entweichen lässt. Ein Teufelskreis. Selbst wenn der Mensch seine CO2-Emissionen bis dahin auf Null reduzieren würde, könnte sich die Temperatur der Erdatmosphäre weiter erhöhen. Solange, bis sich das Ganze irgendwann auf einem viel höheren Niveau als heute einpendelt. Auf welchem Niveau das sein wird, ist offen. Die Aussichten sind erschreckend: "Während des letzten Interglazials, der Eem-Warmzeit vor etwa 120.000 Jahren, war das Klima etwa 1 bis 2 °C wärmer als heute, und der Meeresspiegel lag entsprechend vier bis über sechs Meter höher als heute. Vor etwa drei Millionen Jahren, im Pliozän, war die Nordhalbkugel eisfrei, das mittlere Klima war rund 2 bis 3 °C wärmer als heute, und der Meeresspiegel lag 25 bis 35 m höher als heute. Zum letzten Mal war die Erde vor etwa 35 Millionen Jahren, im Eozän frei von polaren Eiskappen. Der Meeresspiegel war damals knapp 70 m höher als heute. Langfristig ist eine Veränderung der globalen Durchschnittstemperatur um 1 °C mit einem sich verändernden Meeresspiegel um 10 bis 20 m verbunden." [5]

Wie man sieht, gab es auch in der Vergangenheit Klimaschwankungen, aus denen starke Veränderungen des Meeresspiegels resultierten. Nur dumm, dass der Homo sapiens mittlerweile, im Gegensatz zur letzten Warmzeit vor 120.000 Jahren, zu einem Gutteil in küstennahen Millionenstädten wohnt. Dem Versicherungskonzern Allianz zufolge lebt bereits heute eine Milliarde Menschen in tiefliegenden Küstengegenden. [6] Vor 120.000 Jahren wechselte man kurzerhand die Höhle und zog einfach ins Landesinnere um. Die Einwohner von New York werden damit wohl größere Probleme bekommen. Im schlimmsten Fall, nach dem Abschmelzen der Antarktis, stünde sogar Berlin (in Luftlinie 194 km von der Ostsee entfernt) unter Wasser.

Bis zum Jahr 2300 fließt noch viel Wasser den Rhein hinunter, glaubt der konsumfixierte Homo sapiens. Vor 300 Jahren entwickelte ein gewisser Thomas Newcomen erstmals eine tatsächlich verwendbare Dampfmaschine, außerdem wurden 1712 Friedrich der Große und Jean-Jacques Rousseau geboren. Bis 2300 ist also scheinbar noch viel Zeit, gleichwohl ist es in großen Zeiträumen betrachtet bloß ein Wimpernschlag. Hamburg, im 7. Jahrhundert erstmals urkundlich erwähnt, könnte bis dahin schon überflutet sein. Gemessen an der Stadtgeschichte würde das vergleichsweise rasch passieren. Hochzeiten in Venedig? Längst passé. Anders ausgedrückt: Hätten Rousseaus Zeitgenossen dazu die technischen Möglichkeiten gehabt und so gelebt wie wir heute, gäbe es Hamburg gar nicht mehr. Wie wir dann über Rousseaus Generation denken würden, kann sich jeder denken. Dumm und unverantwortlich wären wohl noch die mildesten Urteile. Wie die Menschen in 300 Jahren über die heutige Generation denken werden, kann sich demzufolge ebenfalls jeder denken. "Erwarte nichts vom Menschen, wenn er für seinen Lebensunterhalt arbeitet..." Doch genau darum geht es in Doha: Wir müssen ein bisschen über den eigenen, eng begrenzten Tellerrand hinausblicken.

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[1] tagesschau.de vom 13.11.2012
[2] Badische Zeitung vom 08.08.2011
[3] Süddeutsche vom 30.11.2012
[4] Wikipedia, Meeresspiegelanstieg, Künftige Erhöhung
[5] Wikipedia, Meeresspiegelanstieg, Historischer Rückblick
[6] Tages-Anzeiger vom 08.11.2012