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12. Dezember 2012, von Michael Schöfer
Es wird nicht leicht, Merkel von der Macht zu verdrängen


"Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat", gestand vor knapp eineinhalb Jahren der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher. "Ein Jahrzehnt enthemmter Finanzmarktökonomie entpuppt sich als das erfolgreichste Resozialisierungsprogramm linker Gesellschaftskritik. So abgewirtschaftet sie schien, sie ist nicht nur wieder da, sie wird auch gebraucht." [1] Das bürgerliche Lager zeigte sich aufs Höchste verunsichert. Wegen den tiefgreifenden Verwerfungen auf den Kapitalmärkten und den desaströsen Auswirkungen auf die Wirtschaft war diese Reaktion eigentlich überfällig. Dennoch ragt aus der bürgerlichen Verunsicherung eine Person fast wie eine Lichtgestalt heraus und erscheint gewissermaßen als Fels in der Brandung: Angela Merkel. Man fragt sich, warum. Schließlich ist sie seit 2005 Bundeskanzlerin und daher für den angerichteten Schlamassel mitverantwortlich.

Laut Umfragen würde die Union bei Bundestagswahlen derzeit zwischen 37 und 40 Prozent bekommen. Die Beobachter sind sich einig, dass dies nicht den Parteien (CDU, CSU) zu verdanken ist, sondern ausschließlich der Beliebtheit Merkels. Bei jungen Menschen besitze die Kanzlerin sogar Kultstatus, liest man. "Üblicherweise ließen sich Jüngere bislang immer den linken Parteien zuordnen. Merkel stellt diese Annahme auf den Kopf. In der Gruppe der 18- bis 29-Jährigen erhielt Merkel in der jüngsten Forsa-Umfrage eine Zustimmungsquote von 59 Prozent, bei Schülern und Studenten sogar 62 Prozent", sagt Forsa-Chef Manfred Güllner. [2] Ausgerechnet die Jüngeren, die beim Berufseinstieg oft mit befristeten Jobs abgespeist und gerne als "Generation Praktikum" bezeichnet werden? Kaum zu glauben. Dem ARD-Deutschlandtrend zufolge sehen 44 Prozent "Merkel als das zentrale Motiv, die Union zu wählen, nur sieben Prozent politische Inhalte. 41 Prozent sehen beides gleichrangig." [3] Die Kanzlerin sei ein Wählermagnet, betonen die Wahlforscher.

Darüber können nun wiederum Linke bloß verständnislos den Kopf schütteln. Warum scheint an dieser Regierungschefin überhaupt nichts hängen zu bleiben, weder die Eurokrise noch die erschreckend hohe Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa? Darüber gibt es durchaus unterschiedliche Meinungen. Zunächst muss man konstatieren, dass Merkel ihr Amt absolut unprätentiös ausübt. Wie sie nach innen tatsächlich ist, ist unwichtig. Entscheidend ist, dass sie nach außen hin so erscheint. Sie wirkt jedenfalls authentisch. Doch wer sich in der CDU über mehr als ein Jahrzehnt nahezu unangefochten an der Spitze halten kann, zumal als protestantische Frau aus Ostdeutschland, ist zweifellos mit der dafür notwendigen Härte und Raffinesse ausgestattet. Merkel diesbezüglich zu unterschätzen ist vermutlich der schlimmste Fehler, den man machen kann. Friedrich Merz und Norbert Röttgen können stellvertretend für viele andere ein Lied davon singen.

Es gibt aber noch einen viel gravierenderen Grund: Deutschland geht es vergleichsweise gut. Der Dax steigt trotz Eurokrise immer höher, die Arbeitslosenquote war im November mit 6,5 Prozent erstaunlich niedrig, und im Gegensatz zu den südeuropäischen EU-Mitgliedern wird uns für 2013 beim Bruttoinlandsprodukt immerhin noch ein kleines Wachstum vorhergesagt. Die Zahlen sind, wenn man das turbulente Umfeld berücksichtigt, sogar blendend. Ganz im Gegensatz zu denen in Griechenland, Spanien oder Portugal. Man könnte fast behaupten: Unter den Blinden ist der Einäugige König. Kritiker jenseits des bürgerlichen Lagers verweisen an diesem Punkt gerne auf die eigentlichen Ursachen der Krisenerscheinungen: Dass die Reichen immer reicher, die Armen hingegen immer ärmer würden. Dass sich der Exportriese Deutschland durch das zwei Jahrzehnte lange Stagnieren der Reallöhne unfaire Handelsvorteile verschafft habe (die Exportüberschüsse der einen sind logischerweise die Defizite der anderen). Dass explodierende Aktienkurse nichts über den Wohlstand des Volkes bzw. dessen Verteilung aussagen. Und dass die Austeritätspolitik die Wirtschaft in den hilfesuchenden Euro-Staaten kollabieren lässt. Alles zweifellos richtig, doch davon bleibt in der Tat so gut wie nichts an der Kanzlerin hängen. Ein echtes Phänomen. Und ein Problem für die Opposition.

Die Deutschen sind offenbar recht froh, derzeit von Merkel regiert zu werden, und nicht von Andonis Samaras (Griechenland), Mariano Rajoy (Spanien) oder Mario Monti (Italien). Geschweige denn von David Cameron (Großbritannien). Schon gar nicht von einem gewissen Silvio Berlusconi (Bunga-Bunga). Selbst François Hollande (Frankreich) wird hierzulande eher mit Zurückhaltung aufgenommen, jedenfalls ist keine Euphorie wie einst beim Amtsantritt von François Mitterrand festzustellen. Und Peer Steinbrück? Nun ja... Wir werden sehen. Insofern profitiert Merkel sogar von der Krise in unseren Partnerländern - zumindest solange Deutschland relativ glimpflich davonkommt. Sie erscheint als gute Sachwalterin deutscher Interessen. Ob sie es ist, steht auf einem anderen Blatt. Das dicke Ende komme noch, unken manche. Allerdings unken sie das schon länger, die große Katastrophe ist aber bislang - wenigstens in Deutschland - stets ausgeblieben. Ob sie wirklich kommt, steht mithin in den Sternen.

Doch wie die Zusammenhänge tatsächlich sind, erschließt sich den meisten Menschen ohnehin nicht. Bei der Bewertung der Krise sind ja selbst die Experten völlig uneins, die Kakophonie der Ökonomen ist erstaunlich. Woran, bitteschön, sollen sich dann erst Laien festhalten, wenn es bereits im Elfenbeinturm der Wirtschaftswissenschaften drunter und drüber geht? Die Ratlosigkeit ist mit den Händen zu greifen. Euphemistisch ausgedrückt: "Wir fahren auf Sicht" (Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble). Außerdem: Das Schicksal der Menschen in Südeuropa ist vielen leider vollkommen gleichgültig, das Mitleid folglich recht begrenzt. Welchen Grund hätte Angela Merkel also, von ihrem rigiden Spardiktat Abstand zu nehmen? Keinen, denn dem stimmen ja die meisten zu. Nach einer Emnid-Umfrage halten 73 Prozent der Deutschen Merkel in der Europapolitik für kompetenter als ihren Konkurrent Steinbrück. [4] Wahrscheinlich ist sie von ihrer Politik selbst überzeugt, und sie würde sie nur grundlegend ändern, sofern ihre Macht bedroht wäre. In einzelnen Sachpunkten zeigt sie überdies eine erstaunliche Flexibilität, man könnte das freilich auch, je nach Perspektive, als Opportunismus bezeichnen.

Es wird daher nicht leicht werden, Angela Merkel von der Macht zu verdrängen. "Auf die Kanzlerin kommt es an", hat Volker Kauder kürzlich geäußert. Man mag die Union deswegen als Kanzlerwahlverein verspotten, doch das ist nun mal bei der bevorstehenden Wahlauseinandersetzung ihre beste Strategie. Es wäre ausgesprochen dumm, mit diesem Pfund nicht zu wuchern und stattdessen auf Programmpunkte zu setzen. Wir erinnern uns: Der Leipziger CDU-Bundesparteitag, der 2003 ein für deutsche Verhältnisse fast revolutionäres Steuerkonzept mit nur noch drei Steuerstufen (12, 24 und 36 Prozent) sowie die konsequente Abschaffung von Steuerausnahmetatbeständen beschloss, hätte der Union 2005 fast die Macht gekostet. Sinnbild dafür war der "Professor aus Heidelberg" (eine spöttische Bemerkung von Gerhard Schröder über Paul Kirchhof). Auf Inhalte zu setzen ist für die Union immer mit einem Risiko verbunden. Mit Emotionen, also mit einer nicht auf bestimmte Programmpunkte festzunagelnden Kanzlerin, fährt sie eindeutig besser. Ein schweres Feld, das der eher spröde Peer Steinbrück da zu beackern gedenkt.

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[1] FAZ vom 15.08.2011
[2] RP-online vom 07.12.2012
[3] tagesschau.de vom 06.12.2012
[4] Focus-Online vom 02.12.2012