Home | Archiv | Leserbriefe | Impressum



03. Januar 2013, von Michael Schöfer
Bedauernswerter Steuerflüchtling


Die Diskussion um den Spitzensteuersatz in Frankreich wird immer skurriler. Der Schauspieler Gérard Depardieu, der in letzter Zeit anstatt mit guten Filmen vor allem mit einer Trunkenheitsfahrt auf dem Motorroller oder dem Pinkeln in der Flugzeugkabine auf sich aufmerksam machte, hat jetzt vom russischen Präsidenten Wladimir Putin die russische Staatsangehörigkeit verliehen bekommen. Vor kurzem bekundete Depardieu, seine französische Staatsbürgerschaft aufzugeben und nach Belgien auszuwandern. Grund: Die angeblich inakzeptable Reichensteuer von François Hollande. Ab einem Einkommen von einer Million Euro sollen in Frankreich Spitzenverdiener 75 Prozent bezahlen. Putin hat viel Verständnis für den Steuerflüchtling gezeigt: "Schauspieler, Musiker, Künstler sind von einer zarten mentalen Struktur. Bei uns sagt man auch: Künstler sind leicht zu verstimmen. Deswegen verstehe ich Herrn Depardieu." [1]

Wir erinnern uns: Putins Verständnis für Künstler hat sich bei der Punkband "Pussy Riot" noch in engen Grenzen gehalten. Der Multimillionär Depardieu darf sich künftig über den russischen Einkommenssteuersatz von lediglich 13 Prozent freuen, zwei Musikerinnen der Punkband müssen hingegen zwei Jahre ins Straflager. So lupenrein ist Willkür selten. Kleiner Trost: Zumindest braucht sich Depardieu, der nach eigenem Bekunden täglich sechs Flaschen Wein konsumiert, nicht erst an die russischen Trinksitten gewöhnen. Die bewegen sich nämlich, wenngleich meist in Form von Wodka genossen, in vergleichbaren Größenordnungen.

Laurence Parisot, die Präsidentin des französischen Unternehmerverbandes Medef, beklagte, Hollande sei dabei, "ein Bürgerkriegsklima" zu schaffen, das an das Revolutionsjahr 1789 erinnere. Das stellt die Ursachen der Französischen Revolution auf den Kopf, denn bekanntlich hat seinerzeit die arme Mehrheit (der dritte Stand, 98% der Bevölkerung, überwiegend Bauern und Handwerker) gegen die Ausbeutung durch die reiche Minderheit (Adel und Klerus) revoltiert, nicht umgekehrt. Adel und Klerus waren schließlich vor der Revolution von der Steuerpflicht befreit. Wie geschichtsblind darf man eigentlich argumentieren? Offenbar ist zur Verteidigung der Privilegien kein Mittel schäbig genug.

Doch auch in der Bevölkerung herrscht oft Unkenntnis über die Reichensteuer. "Wenn ein Staat 75% meines Einkommens haben will, würde ich auch flüchten", liest man etwa in den Leserkommentaren von tagesschau.de. Bloß zur Klarstellung: Der Spitzensteuersatz von 75 Prozent ist ein sogenannter Grenzsteuersatz, das ist der "Steuersatz, mit dem die jeweils nächste Einheit der Steuerbemessungsgrundlage belastet wird". [2] Er darf nicht mit dem effektiven Steuersatz verwechselt werden. Es ist also keineswegs so, dass der französische Staat Gérard Depardieu drei Viertel seiner Gesamteinkünfte wegnimmt. Vielmehr würde er erst für den ersten Euro, der die Millionengrenze übersteigt, 75 Prozent zahlen. Außerdem gibt es noch Abzugsmöglichkeiten, etwa den Familienquotienten. Für alle Einkünfte unterhalb von einer Million würde der Schauspieler folglich einen geringeren Steuersatz bezahlen. Der effektive Steuersatz des Gesamteinkommens erreicht daher nie die Höhe des Spitzensteuersatzes.

Ohnehin hat die französische Reichensteuer einen eher symbolischen Wert - es sollen nur 1500 Personen von ihr betroffen sein, und sie würde ungefähr 210 Mio. Euro in die Staatskasse spülen (= 0,28 Prozent der für 2013 erwarteten Einnahmen durch die Einkommenssteuer). Da hätte man sich durchaus mehr gewünscht. Aber in einer Zeit, in der die Bürger kräftig für die Bankenrettung zur Kasse gebeten werden und den Gürtel vermutlich auf Jahre hinaus enger schnallen müssen, hat sie eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Es geht um Gerechtigkeit. Die Reaktion Depardieus ist charakteristisch für eine elitäre und selbstverliebte Oberschicht, die zwar aus der Gesellschaft das maximale herausholen, aber im Gegenzug möglichst wenig zum Gemeinwesen beitragen möchte. Wer hat sich denn in den Kinos die Filme Depardieus angesehen, durch wen ist er so reich geworden? War es nicht der Normalbürger, der jetzt von ihm gewissermaßen einen Tritt in den Hintern verpasst bekommt? Nun macht er sich aus dem Staub (ob nach Belgien oder Russland, wird man sehen).

Zum Vergleich: Der republikanische US-Präsident Herbert Hoover hob im Jahr 1932 den Spitzensteuersatz auf 63 Prozent, sein demokratischer Nachfolger Franklin Delano Roosevelt setzte ihn 1935 auf 79 Prozent herauf, und unter Dwight D. Eisenhower lag er sogar bei 91 Prozent. Erst Ronald Reagan senkte ihn von 70 auf 28 Prozent. [3] Reagan ist übrigens der, der uns - zusammen mit seiner britischen Freundin Maggie Thatcher - auch die fatale Deregulierung der Finanzmärkte beschert hat. Mit anderen Worten: Die 75 Prozent Hollandes bewegen sich in Regionen, die in den USA, dem Mutterland des Kapitalismus, lange Zeit als normal galten. Erst das neoliberale Dogma, dem wir die heutige Wirtschaftskrise zu verdanken haben, hat derartige Spitzensteuersätze als "sozialistisch" gebrandmarkt. Dass hierzulande unter den bekennenden Sozialisten Konrad Adenauer und Helmut Kohl einmal 53 bzw. 56 Prozent galten, ist fast schon vergessen.

Die Diskussion über die Anhebung des Spitzensteuersatzes gibt es in fast allen westlichen Industriestaaten. Und überall versuchen sich die Begüterten möglichst vor der Besteuerung zu drücken. Notfalls durch Flucht in Steuerparadiese. Fast möchte man ihnen "verantwortungsloses Gesindel" und "wahre Asoziale" hinterherrufen. Solche pauschalen Verdikte sind allerdings unangebracht. Es gibt ja auch vernünftige Reiche, zum Beispiel der legendäre Investor Warren Buffett, die für eine höhere Besteuerung von ihresgleichen plädieren. Dennoch zeigt der Vorgang um Depardieu, dass heutzutage die Auseinandersetzung weniger zwischen effektiven oder vermeintlich uneffektiven Volkswirtschaften stattfindet, sondern in Wahrheit zwischen Arm und Reich. Und zwar in globalem Ausmaß, quer durch alle Staaten. Die Menschen der Mittel- oder Unterschicht lassen sich nur allzu bereitwillig gegen die Mittel- oder Unterschicht anderer Länder ausspielen. Der eigentliche Dissens besteht jedoch zwischen denen da oben und den restlichen 99 Prozent.

Es gibt deshalb überhaupt keinen Grund, den Steuerflüchtling Depardieu zu hofieren oder zu bedauern. Zeig' mir Deine Freunde, und ich sage Dir, wer Du bist. Wer mit Putin befreundet ist...

----------

[1] tagesschau.de vom 03.01.2013
[2] Wikipedia, Grenzsteuersatz
[3] Tax Policy Center, Historical Highest Marginal Income Tax Rates 1913-2012, PDF-Datei mit 8 kb