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05. Februar 2013, von Michael Schöfer
Blue Card EU


Deutschland leide unter einem zunehmenden Fachkräftemangel, hört man allenthalben. Auf den Hinweis, es gebe doch nach wie vor genug Arbeitslose (Stand Januar 2013: 3,138 Mio.) erwidern die Unternehmen, denen fehle oft die notwendige Qualifikation. Die Bildung, die unser Schulsystem vermittle, sei bei vielen bedauerlicherweise mangelhaft, klagen sie.

Eine Analyse der Nürnberger Bundesagentur für Arbeit vom Dezember 2012 kommt allerdings zu dem Ergebnis, dass es derzeit in Deutschland keinen flächendeckenden Fachkräftemangel gebe, es bestünden jedoch Engpässe in einzelnen technischen Berufsfeldern. "Bei den technischen Berufen bestehen Fachkräfteprobleme vor allem auf Ebene der Experten (Ingenieure)", heißt es dort. In diesem Segment blieben Stellen deutlich länger vakant als in anderen Bereichen. [1] Gleichwohl gab es im ersten Halbjahr 2012 im Durchschnitt 18.900 arbeitslose Ingenieure. [2] Das ist zwar weniger als in den Jahren zuvor, aber immer noch recht beachtlich - jedenfalls dann, wenn man den behaupteten Fachkräftemangel als zutreffend einstuft. Wie passt das zusammen: Fachkräftemangel und arbeitslose Ingenieure in Kleinstadtgröße?

Das Bild ist in der Tat höchst widersprüchlich: Dem Verein Deutscher Ingenieure (VDI) zufolge gab es im Dezember 2012 in den Ingenieurberufen 71.900 offene Stellen zu besetzen, denen freilich 24.115 arbeitslose Ingenieure gegenüberstanden. [3] Da klingt es - zumindest in den Ohren der arbeitslosen Ingenieure - ein bisschen wie Hohn, wenn der VDI "gute Jobaussichten für Ingenieure" konstatiert. [4] Müsste nicht wenigstens bei den Ingenieuren Vollbeschäftigung herrschen? Mangelnde Schulbildung kann Hochschulabsolventen wohl kaum vorgeworfen werden. Es bleibt also ein Rätsel, wieso wir einerseits, zumindest wenn man den Politikern und der Wirtschaft Glauben schenkt, unter einem Fachkräftemangel leiden, andererseits aber trotzdem zigtausend ausgebildete Ingenieure auf der Straße stehen. Wird etwa an den Universitäten oder Fachhochschulen falsch oder am Bedarf vorbei ausgebildet? Zu viele Bauingenieure, zu wenig Fahrzeugtechniker? Oder ist vielleicht der Fachkräftemangel bloß eine Mär?

Wie auch immer: Die Bundesregierung sieht in der Anwerbung ausländischer Fachkräfte einen Ausweg aus dem (behaupteten) Fachkräftemangel. "Deutschland öffnet sich für ausländische Fachkräfte", las man etwa 2011 auf der Website des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Ein inzwischen inkraftgetretenes Gesetz der Bundesregierung hat die Fachkräftezuwanderung reformiert, außerdem gibt es seit August 2012 die "Blaue Karte EU". Zweck der Blue Card (analog zur amerikanischen Green Card) ist "ein erleichtertes Verfahren für die Zulassung hochqualifizierter Drittstaatsangehöriger sowie attraktive Aufenthaltsbedingungen für hochqualifizierte Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen". [5]

Die Fachkräftesicherung komme voran, sagt die Bundesregierung. "Wir sind besser und schneller, als vor einigen Jahren absehbar, aber wir haben noch viel vor uns. Wenn wir nicht etwas ändern, fehlen uns 2025 rund sechs Millionen Fachkräfte" mahnt Ursula von der Leyen (CDU), die Bundesarbeitsministerin. [6] Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sieht das wesentlich kritischer: "Etwa 25.000 Arbeitsmigranten aus Ländern außerhalb der Europäischen Union und der Europäischen Freihandelszone Efta kommen jährlich nach Deutschland. Dänemark, Großbritannien oder Kanada verzeichneten dagegen - gemessen an ihrer Einwohnerzahl - fünf- bis zehnmal so viele dieser Zuwanderer." [7] Woran liegt das? Nur am Sprachproblem?

Wie sehen überhaupt die Konditionen der Blue Card aus? "Top-Fachkräfte aus Nicht-EU-Staaten können seit 1. August 2012 mit der neuen 'Blauen Karte EU' (Blue Card) einwandern, wenn sie ein Jahressalär von mindestens 46.000 Euro beziehen. Bei Berufen, in denen ein besonderer Mangel herrscht, reichen 33.000 Euro." [8] Man reibt sich verwundert die Augen. Wohlgemerkt: Wir sprechen über "Hochqualifizierte" und "Top-Fachkräfte", da regelt bekanntlich das Angebot die Nachfrage. Will heißen: Bei Berufen, in denen ein besonderer Mangel herrscht, sind 33.000 Euro Jahreseinkommen schlicht und ergreifend ein Witz. Aber kein guter, denn das ist ein Monatseinkommen von lediglich 2.700 Euro. Brutto! Netto kommen bei einem Ledigen ohne Kinder ganze 1.732 Euro heraus. Das würde vielleicht die berühmt-berüchtigte Friseuse in Leipzig erfreuen, doch bestimmt keinen indischen IT-Techniker aus Bangalore.

Da im Gegensatz zu früher, als noch eine Einkommensgrenze von 66.000 Euro galt, die Anforderungen bewusst herabgesetzt wurden, kann man daraus nur einen Schluss ziehen: Die Unternehmen wollen zwar hochqualifizierte Fachkräfte anwerben, aber dafür allenfalls ein Durchschnittsgehalt zahlen. Ginge es nämlich nach den Hochqualifizierten, hätte man das Jahreseinkommen erhöhen und nicht verringern müssen. Es ist ja wenig plausibel, dass Top-Fachkräfte, die früher durch ein Jahreseinkommen in Höhe von 66.000 Euro nur in ungenügendem Ausmaß nach Deutschland zu locken waren, nun massenhaft bereit sein sollen, dies freudestrahlend für die Hälfte zu tun. Bei besonderem Mangel reichen 33.000 Euro? Reicht dann bei totalem Mangel ein Hungerlohn? Was für ein verqueres Denken. Und das bei Leuten, die sonst die Gesetze des Marktes wie eine Monstranz vor sich hertragen.

Ich fürchte, da will uns jemand für dumm verkaufen, denn weniger Gehalt anzubieten ist doch kein zusätzlicher Anreiz. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Die Unternehmen sind offenbar zu geizig! Sie haben die Lohndrückerei inzwischen so verinnerlicht, dass sie selbst den begehrten Fachkräften zu wenig Gehalt bezahlen. Kein Wunder, wenn Deutschland nicht attraktiv genug ist. Oder gibt es, siehe die eingangs erwähnte Einschätzung der Bundesagentur für Arbeit, gar keinen Fachkräftemangel? Soll die Zuwanderung nicht vielmehr helfen, die demographische Lücke möglichst klein zu halten, um dadurch das Lohnniveau, das seit 20 Jahren stagniert, auch weiterhin drücken zu können? Denn hätten wir einen echten Fachkräftemangel, müsste das Lohnniveau logischerweise steigen.

Meiner Ansicht nach soll der angebliche Fachkräftemangel und die Anwerbung ausländischer Fachkräfte auch das eklatante Versagen auf dem Bildungssektor übertünchen. Und bei alldem ist die Frage, ob es legitim ist, den Schwellenländern ausgerechnet deren Fachkräfte abzuwerben, noch nicht einmal angerissen, geschweige denn ausdiskutiert.

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[1] Bundesagentur für Arbeit, Hintergrundinformation - Aktuelle Fachkräfteengpässe, PDF-Datei mit 1,4 MB
[2] Bundesagentur für Arbeit, Broschüre Ingenieurwissenschaften, Seite 18, PDF-Datei mit 5,5 MB
[3] VDI, Pressemeldung vom 15.01.2013
[4] news aktuell vom 13.11.2012
[5] BMBF, Pressemitteilung 162/2011 vom 07.12.2011
[6] Bundesregierung, Pressemitteilung vom 23.01.2013
[7] Süddeutsche vom 05.02.2013
[8] Süddeutsche a.a.O.