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06. Februar 2013, von Michael Schöfer
Es gilt die Unschuldsvermutung


Vor 35 Jahren hat man mir mal im Rahmen meiner kaufmännischen Ausbildung etwas vom "ehrbaren Kaufmann" erzählt, dem "Verhalten eines redlich und anständig handelnden Menschen", wie Wikipedia erläutert. Nun ist Ehrbarkeit nicht bloß im Geschäftsleben erwünscht, sondern ebenso in allen übrigen Lebensbereichen, sei es im Privaten, beim Sport oder in der Politik. Und wie der geneigte Leser bestimmt sogleich bemerkt hat, klafft, was die Ehrbarkeit angeht, zwischen Theorie und Praxis bedauerlicherweise eine riesengroße Lücke. Man könnte fast glauben, die Welt bestehe nur noch aus Lügnern und Betrügern.

Nach langen Jahren des Leugnens hat jetzt auch der siebenmalige Tourbetrüger Lance Armstrong den Gebrauch von leistungsfördernden Substanzen zugegeben. Chancengleichheit wurde wohl allein dadurch hergestellt, dass vermutlich der Großteil seiner Kollegen im Peloton ebenfalls gedopt war, die Liste der Ertappten ist jedenfalls beachtlich. Der CSU-Politiker Karl-Theodor Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Franz Joseph Sylvester Freiherr von und zu Guttenberg kämpfte bekanntlich mit den Fußnoten seiner Dissertation, hat aber laut eigenem Bekunden zu keinem Zeitpunkt bewusst betrogen ("Ich habe die Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen angefertigt"). Annette Schavan (CDU) hat in ihrer Doktorarbeit möglicherweise ein paar Flüchtigkeitsfehler begangen, aber natürlich genauso wenig betrogen wie seinerzeit Guttenberg. Sie habe nicht getäuscht, behauptet sie standhaft ("Ich habe meine Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen erstellt"). Ihr Pech ist, dass der Fakultätsrat der Uni Düsseldorf zu einem anderen Ergebnis kam. Schavan habe "systematisch und vorsätzlich über die gesamte Dissertation verteilt gedankliche Leistungen" vorgegeben, "die sie in Wirklichkeit nicht selbst erbracht hatte". Sie will trotzdem nicht zurücktreten, sagte sie vor kurzem, das sei sie "der Wissenschaft schuldig" - was immer diese Redewendung im vorliegenden Zusammenhang bedeuten mag. Bis zum Abschluss des Verfahren, die Bundesministerin für Bildung und Forschung will gegen die Aberkennung des Doktortitels klagen, gilt selbstverständlich die Unschuldsvermutung.

Doch was sind Dissertationen gegen andere Betrugsfälle? Petitessen! Die wahre Meisterschaft finden wir dort, wo das ganz große Rad gedreht wird: in der Finanzindustrie. Etliche Großbanken (Bank of America, Barclays, Mitsubishi-UFJ, Citi, Credit Suisse, Deutsche Bank, HSBC, JP Morgan, Lloyds, Royal Bank of Scotland und UBS) sollen in die Manipulation des Libor verwickelt sein. Die Manipulation des Referenzzinssatzes ist allerdings bloß ein Teil der Vorwürfe gegen die Bankenbranche. Es drängt sich unweigerlich der Eindruck auf, dass man ehrbare Banker fast schon mit der Lupe suchen muss, und zuweilen ähnelt dieses Unterfangen der berühmten Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen. Doch Vorsicht: Selbst hier gilt bis zum Beweis des Gegenteils die Unschuldsvermutung (schließlich wird keiner gerne von den mächtigen Rechtsabteilungen der Kreditinstitute aufs Korn genommen und wegen Verleumdung oder übler Nachrede verklagt).

Im Geschäftsleben ist Korruption offenbar keine Ausnahme, dafür stehen so renommierte Firmen wie Siemens, MAN, Ferrostahl, Daimler, Infineon, EADS, Thyssen-Krupp oder Rheinmetall. Selbstverständlich gilt die Unschuldsvermutung auch in Spanien, wo Ministerpräsident Rajoy mit Korruptionsvorwürfen zu kämpfen hat. Im beschaulichen Österreich scheint die Politik sogar im Korruptionssumpf zu versinken. Vor kurzem wurde Ex-Innenminister Strasser zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Ex-Finanzminister Karl-Heinz Grasser könnte ihm demnächst in der Zelle Gesellschaft leisten, ihm wird Steuerhinterziehung in Höhe von 2,6 Mio. Euro vorgeworfen. Unter Korruptionsvorwürfen leidet der Fußball-Weltverband Fifa genauso wie das Internationale Olympische Komitee (IOK). Gerade wurden im Fußball Wettmanipulationen ungeheuren Ausmaßes festgestellt, weltweit sollen 700 Spiele manipuliert worden sein, angeblich sind darin mehr als 400 Personen verwickelt. Im Vergleich dazu war die Parteispendenaffäre der CDU geradezu übersichtlich. Aber auch hier gilt, Sie ahnen es bereits, die Unschuldsvermutung. Inzwischen schwimmen wir gewissermaßen in einem Meer von Unschuldsvermutungen.

Die Unschuldsvermutung deckt die juristische Seite ab. Und natürlich will niemand von unseren Rechtsprinzipien abweichen. Das ist auch gut so. Auf der anderen Seite der Medaille steht jedoch der verheerende Eindruck, den die Affären beim einfachen Bürger hinterlassen. Warum soll er sich überhaupt rechtschaffen verhalten, wenn ihm Politiker, Sportidole und Unternehmen ständig das Gegenteil vorleben? Der "ehrbare Kaufmann", den man mir vor 35 Jahren als Vorbild präsentierte, verkommt langsam zur Witzfigur. Böswillig Zyniker unterstellen einem dann gerne "Gutmenschentum". Doch davon abgesehen, dass die anderen, nähme man den Vorwurf wirklich ernst, logischerweise das "Schlechtmenschentum" verkörpern würden, sollte man die psychologische Wirkung der Skandale keinesfalls verharmlosen. Denn was hält eine Gesellschaft zusammen, in der jeder auf schamlose Weise seine Mitmenschen über den Tisch zieht? Phrasen, Worthülsen und substanzloses Geschwätz jedenfalls nicht. Wenigstens werden derartige Verstöße in einer Demokratie nicht so oft unter den Teppich gekehrt, wie es in autoritären Staaten geschieht, das garantiert schon allein die Presse- und Meinungsfreiheit. Eine Bestandsgarantie für die Demokratie ist das freilich nicht. Sollten die Bürger ihr angesichts des Umfangs der Betrügereien je überdrüssig werden, kann das Ganze nämlich schnell kippen. Daraus erwächst die Verantwortung, Transparenz und Kontrolle nicht zu vernachlässigen.