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08. Februar 2013, von Michael Schöfer
Chinesisches Wachstumsmodell nicht haltbar


Jetzt bräuchten die Chinesen einen wie Willy Brandt, der hatte nämlich 1961 verkündet: "Erschreckende Untersuchungsergebnisse zeigen, dass im Zusammenhang mit der Verschmutzung von Luft und Wasser eine Zunahme von Leukämie, Krebs, Rachitis und Blutbildveränderungen sogar schon bei Kindern festzustellen ist. Es ist bestürzend, dass diese Gemeinschaftsaufgabe, bei der es um die Gesundheit von Millionen Menschen geht, bisher fast völlig vernachlässigt wurde. Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden!" [1] Er sei damals ausgelacht worden, heißt es. Jedenfalls hat er mit seinem "Umweltprogramm" die Bundestagswahl gegen Konrad Adenauer verloren (CDU 45,3 %, SPD 36,2 %). 1961 war es für grüne Gedanken eben noch ein bisschen zu früh, die Deutschen setzten viel lieber auf ungehemmtes Wachstum. Vielleicht hätten die Chinesen vor ein paar Jahren ebenfalls über einen Mann wie Brandt gelacht, falls dieser gefordert hätte: "Der Himmel über Peking muss wieder blau werden!" Spätestens im Winter 2012/2013 wäre ihnen allerdings das Lachen gründlich vergangen.

Derzeit breitet sich in weiten Teilen Chinas dichter Smog aus. Im Januar wurden in Peking bis zu 993 Mikrogramm Feinstaub pro Kubikmeter gemessen, laut WHO ist alles über 25 Mikrogramm gesundheitsschädlich. "Die Smogdecke liegt über weiten Teilen Chinas." Der chinesischen Umweltbehörde zufolge "sei ein Territorium von 1,3 Millionen Quadratkilometern unter dem Giftnebel verschwunden - ein Siebtel Chinas, eine Fläche dreieinhalb mal so groß wie Deutschland". [2] Nicht bloß an einzelnen Tagen, sondern schon seit Wochen. Schuld ist der exorbitante Energieverbrauch Chinas.



Smog in Peking 2007
[Quelle: Wikimedia Commons, CC BY 2.0-Lizenz, Urheber: Kevin Dooley from Chander, AZ, USA]


Smog in Shanghai 2008
[Quelle: Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0-Lizenz, Urheber: Suicup]

Nach Angaben des Energiemultis BP hatte China 2011 am globalen Verbrauch von Kohle einen Anteil von 49,4 Prozent, also beinahe die Hälfte. Anders ausgedrückt: Von zwei Tonnen Kohle wird eine in China verbrannt, die andere teilen sich quer über den Globus hinweg die restlichen 193 Staaten. Im Reich der Mitte ist Kohle mit großem Abstand der Hauptenergieträger. [3] Und Chinas Energiehunger wächst rasant, in den elf Jahren zwischen 2001 und 2011 stieg der Primärenergieverbrauch um 150,9 Prozent. [4] Wächst der chinesische Primärenergieverbrauch weiterhin so massiv wie bisher, hätte das Land bei linearer Fortschreibung im Jahr 2022 schon 53 Prozent des heutigen globalen Gesamtprimärenergieverbrauchs [5] erreicht, im Jahr 2033 wären es dann bereits 134 Prozent und 2044 wahnwitzige 336 Prozent [6]. Es ist kaum zu leugnen: Das chinesische Wachstumsmodell wird, wenn sich nichts ändert, zwangsläufig scheitern. Es muss (in seiner heutigen Form) scheitern, weil auf diesem Planeten gar nicht genug fossile Energie vorhanden ist, um den für die nächsten Jahrzehnte prognostizierten Verbrauch Chinas auch nur annähernd zu decken. Dort geht derzeit pro Woche ein neues Kohlekraftwerk ans Netz, was immerhin den Energiemix der nächsten 30 oder 40 Jahre beeinflusst. Für eine Änderung müssten aber jetzt Fakten geschaffen werden.






Nun sind zwar Ratschläge und Mahnungen aus den westlichen Industriestaaten, die seit dem Beginn der Industrialisierung vor rund 150 Jahren die Natur unbarmherzig ausgebeutet haben, wegen den negativen Auswirkungen sachlich durchaus richtig, aber in den Augen der Chinesen absolut unangebracht. Denn das größte Volk der Erde hat sich erst vor 30 Jahren auf den Weg vom verarmten Agrarstaat zur Industrienation gemacht und hinkt beim Wohlstand nach wie vor deutlich hinterher. Das Bruttoinlandsprodukt Deutschlands betrug 2012 pro Kopf 42.625 US-Dollar, das von China (ohne Hongkong und Macao) dagegen lediglich 5.899 US-Dollar. [7] Trotz beeindruckender Wachstumsraten haben die Chinesen noch lange nicht das gleiche Wohlstandsniveau erreicht. Beispiel Automobile: In China wurden 2011 14,5 Mio. PKW neu zugelassen, in den USA 6,1 Mio., in Japan 3,5 Mio. und in Deutschland 3,2 Mio. [8] Beim PKW-Bestand sieht das Ganze freilich anders aus, hier haben die USA mit 127,6 Mio. den größten Anteil, gefolgt von Japan (58,7 Mio.), China (43,2 Mio.) und Deutschland (42,9 Mio.). [9] Wie krass der Abstand zum Westen ist, zeigt jedoch erst die PKW-Dichte: China kommt hier auf magere 34 PKW pro 1000 Einwohner, während in den USA 439, in Japan 454 und in Deutschland sogar 510 PKW auf 1000 Einwohner kommen. [10] China weist bis dato nur 6,7 Prozent der deutschen PKW-Dichte auf.


Grund: Der asiatische Riese besteht bekanntlich nicht nur aus Peking, Shanghai oder Hongkong. Peter Hefele und Andreas Dittrich von der Konrad-Adenauer-Stiftung taxierten 2011 den Anteil der chinesischen Mittelschicht auf ungefähr 12 Prozent (= 157 Mio. Menschen). [11] Nach Angaben der chinesische Akademie der Sozialwissenschaften (CASS) sind es 23 Prozent oder 310 Millionen Menschen. [12] Die Definition, wer zur Mittelschicht zählt, divergiert je nach Berechnungsgrundlage. Wie auch immer, jedenfalls bedeutet das: Chinas Mehrheit ist - im Vergleich zum Westen - nach wie vor arm. Und von diesen Chinesen zu fordern, sie sollten im Interesse des Weltklimas oder der schwindenden Ressourcen gefälligst weiterhin arm bleiben, ist mit Sicherheit keine geeignete Strategie zur Lösung des Problems. Insbesondere wenn damit unausgesprochen der zynische Wunsch verbunden ist, China sollte dem Westen auch den Rest überlassen, den wir bislang noch nicht aus der Erde herausgeholt haben.

Andererseits: Würde die PKW-Dichte in China an die von Deutschland heranreichen, wären die Folgen gewiss verheerend. Bei 1,34 Mrd. Einwohnern gäbe es dort nämlich nicht bloß 43,2 Mio. PKW, sondern gigantische 683 Mio. - fast so viel wie 2011 auf der ganzen Welt herumfuhren (746 Mio.). Jeder wird wohl rasch einsehen, dass 683 Mio. PKW auf Chinas Straßen ein Ding der Unmöglichkeit sind, auch wenn schon allein der Gedanke daran den Managern von BMW, Audi, Mercedes und Porsche buchstäblich das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt. Für die deutsche Autoindustrie ist China, was die Verkaufszahlen angeht, das Paradies schlechthin (die Premiumhersteller verkaufen dort inzwischen mehr als im Heimatmarkt oder in den USA), außerdem ist da noch viel Potential nach oben. Den kolossalen Kraftstoffverbrauch und die horrenden Feinstaubwerte kann man sich allerdings ebenfalls leicht ausmalen.

Halten wir fest: China kann nicht mehr lange so wie bisher gewohnt weiterwachsen, aber die Chinesen haben zweifellos das Recht auf eine gerechte Teilhabe am globalen Reichtum - wie alle anderen auch. Es müssen daher andere Wege gesucht werden. Aus meiner Sicht führt an einem Umbau der globalen Wirtschaft ohnehin kein Weg vorbei. Gleichgültig wie man die Vergangenheit bewertet, die Zukunft der Weltwirtschaft kann nur auf regenerativen Energieträgern beruhen. Und das so schnell wie möglich (der Atmosphäre ist es egal, aus welchen Schloten das CO2 entweicht). Das bedingt m.E. aber eine Demokratisierung Chinas. In einem Land, in dem wegen der Einparteienherrschaft der Kommunistischen Partei nur in engen Grenzen über die Richtung des Wirtschaftssystems und dessen Folgen für die Umwelt diskutiert werden darf, sind Änderungen nur schwer durchzusetzen. Das mag die KPCh ignorieren, den Smog muss sie trotzdem ernst nehmen, denn je drastischer die Auswirkungen der Umweltsünden ausfallen, desto stärker werden die Regierenden von den Bürgern für die Misere verantwortlich gemacht.

Willy Brandt hatte 1961 recht, und der Himmel über dem Ruhrgebiet ist heute tatsächlich wieder blau. Doch das war nur über eine allmähliche Bewusstseinsänderung in der Bevölkerung und - daraus resultierend - andere politische Mehrheiten möglich. Es liegt deshalb im ureigensten Interesse Chinas, ein Mehrparteiensystem einzuführen sowie Demokratie und Menschenrechte zu garantieren. Falls nicht, wird das System vermutlich recht bald kollabieren. Dann hätte nicht einmal die Kommunistische Partei etwas davon.

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[1] Wikipedia, Blauer Himmel über dem Ruhrgebiet
[2] Süddeutsche vom 31.01.2013
[3] BP Statistical Review of World Energy 2012, Seite 32, PDF-Datei mit 8,6 MB
2011 (ohne Hongkong): Öl 461,8 Mio. t (= 17,7 %), Erdgas 117,6 Mio. t Öläquivalent (= 4,5 %), Kohle 1839,4 Mio. t Öläquivalent (= 70,4 %), Kernenergie 19,5 Mio. t Öläquivalent (= 0,7 %), Wasserkraft 157,0 Mio. t Öläquivalent (= 6,0 %), Erneuerbare Energien 17,7 Mio. t Öläquivalent (= 0,7 %), Total 2613,2 Mio. t Öläquivalent
[4] von 1041,4 Mio. t Öläquivalent auf 2613,2 Mio. t Öläquivalent
[5] 12274,6 Mio. t Öläquivalent
[6] 2022: 6556,5 Mio. t Öläquivalent, 2033: 16450,3 Mio. t Öläquivalent, 2044: 41273,8 Mio. t Öläquivalent
[7] Wikipedia, Liste der Länder nach Bruttoinlandsprodukt pro Kopf
[8] Wikipedia, Wirtschaftszahlen zum Automobil, Personenkraftwagen
[9] Wikipedia, Wirtschaftszahlen zum Automobil, KFZ-Bestand nach Ländern
[10] Statistisches Bundesamt, Basisdaten Personenkraftwagen (Angaben jeweils für 2009)
[11] Konrad-Adenauer-Stifung, KAS Auslandsinformationen 12/2011, Die Mittelschicht in China, Seite 66, PDF-Datei mit 2,2 MB
[12] Deutsche Welle vom 03.01.2013