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12. Februar 2013, von Michael Schöfer
Mehrere Versionen von Bin Ladens Tod


Angeblich packt jetzt ein US-Elitesoldat die Wahrheit über den Tod von Osama bin Laden aus, nach seinen Aussagen schoss er ihm bei dem Einsatz in Abbottabad insgesamt dreimal in die Stirn: "Zwei Mal habe er Bin Laden in die Stirn geschossen, dann sei der Terrorist auf den Boden gesackt. Anschließend habe er noch einen Schuss auf Bin Ladens Kopf abgegeben: 'Bumm, gleiche Stelle. Er war tot. Bewegte sich nicht. Seine Zunge hing heraus'", schildert der Soldat die entscheidenden Sekunden. "Weil der Al-Qaida-Chef seine jüngste Frau vor sich hergeschoben habe, habe er befürchtet, dass sie eine Sprengstoffweste tragen könnte. Außerdem habe Bin Laden eine Kalaschnikow in seiner Nähe gehabt. 'Er war eine Bedrohung'", sagt er. [1]

Um die Geschichte glaubwürdiger und nicht vom Weißen Haus aus gesteuert erscheinen zu lassen, wird noch erwähnt, dass der namentlich nicht genannte Scharfschütze nach 16 Jahren das Militär verlassen hat. Offenbar wäre er gerne länger geblieben. "Danke für die 16 Jahre", sei ihm jedoch lapidar entgegnet worden. Pensionsansprüche hätte er erst nach 20 Dienstjahren erworben und sei daher leer ausgegangen. Heute sei er arbeitslos. "Ein Held vor dem Ruin", schreibt der Focus etwas zu martialisch. "Er hat so viel für sein Land gegeben, und nun scheint es, dass er im Staub zurückgelassen wird", beklagt sich pathetisch seine Frau gegenüber dem amerikanischen Magazin "Esquire". [2] Dadurch wird natürlich suggeriert, dass die Geschichte wahr sein muss, weil der "Held" dieser undankbaren Regierung bestimmt keinen Gefallen mehr tun wird.

Okay, Klappe zu, ist halt so? Nein, nicht ganz, denn zum Tod des einstigen Chefs von Al-Qaida gibt es zu unserem Leidwesen mehrere voneinander abweichende Versionen. "Die US-Regierung hatte nach der Tötungsaktion in Pakistan stets behauptet: Der Al-Kaida-Chef wurde nicht vorsätzlich hingerichtet. Bin Laden habe sich in seinem Schlafzimmer umgedreht, um möglicherweise nach einer Waffe zu greifen. 'Bin Laden leistete Widerstand!', behauptete Regierungssprecher Jay Carney im Mai 2011." [3] Glaubte man den - später korrigierten - Worten des Präsidentenberaters John O. Brennan unmittelbar nach dem Einsatz, soll er sich sogar an einem von seinen Begleitern eröffneten Feuergefecht beteiligt haben. [4]

Doch nach den Schilderungen von Matt Bissonnette "kam Bin Laden gar nicht mehr dazu, Gegenwehr zu leisten. Die US-Soldaten hätten ihm in den Kopf geschossen, als er aus der Tür auf den Flur schaute", schreibt der ebenfalls am Einsatz beteiligte Soldat in seinem unter dem Pseudonym "Mark Owen" veröffentlichten Buch "No Easy Day". [5] "Durch den engen Treppenaufgang zwängen sich die mit 30 Kilogramm Ausrüstung beladenen Seals in den zweiten Stock. Bissonnette folgt direkt dem sogenannten Point Man, der die Spitze bildet. Und plötzlich noch von der Treppe aus zwei Schüsse abgibt. Sekunden später stehen der Point Man, Bissonnette und ein dritter Seal in einem Schlafzimmer, in dem zwei Frauen in langen Kleidern laut wehklagend neben einem Mann stehen, der am Boden liegt und sich 'in Todeszuckungen krümmt'. Bissonnette und der zweite Seal legen aus nächster Nähe an und feuern mehrmals auf Osama Bin Laden. 'Er rührte sich nicht mehr.'" [6] Bei der anschließenden Durchsuchung fand man in einem Regal bei der Zimmertür lediglich zwei ungeladene Waffen. Nach dieser Version also keine Gegenwehr und keine Frau, die Bin Laden als Schutzschild vor sich herschob.

Doch damit nicht genug, es gibt nämlich noch eine dritte Version: "Im obersten Stockwerk stoßen die Navy Seals auf Bin Laden und dessen jüngste Ehefrau, Amal Ahmed Adu al Fattah. Die 29-jährige Jemenitin stürzt auf die Amerikaner zu und wird mit einem Schuss im Bein verletzt. Bin Laden wird von zwei Kugeln getroffen: Einmal in die Brust und einmal in den Kopf - er ist sofort tot. Laut offiziellen US-Angaben war Bin Laden unbewaffnet, soll aber in greifbarer Nähe ein Sturmgewehr und eine Pistole gehabt haben", lesen wir wenige Tage nach der Kommandoaktion (Codename "Geronimo", später umbenannt in "Neptune’s Spear"). [7] Das ist die Version, wie sie von der US-Regierung kurz nach Bin Ladens Tod verbreitet wurde. Und es ist hier lediglich von einem Schuss in den Kopf und von einem in die Brust die Rede. Der eingangs erwähnte Elitesoldat spricht allerdings von drei Schüssen in die Stirn, Bissonnette wiederum will sich gleich an mehrere Schüsse erinnern.

Aber damit immer noch nicht genug, es gibt eine vierte Version. Chuck Pfarrer, ein früherer Kommandeur der Navy Seals hat sie in seinem Buch "Seal Target Geronimo" veröffentlicht: "Die Männer treten Türen und Fenster im Obergeschoss ein und schlüpfen ins Gebäude. Als Erstes sehen sie Khaira, Bin Ladens dritte Frau. Vom Licht geblendet taumelt sie, ein Elitesoldat reißt sie zu Boden. Dann öffnet sich die Tür zum Schlafzimmer. Osama bin Laden erscheint. Nur kurz schaut er hinaus, dann schlägt er die Türe zu. (…) Zeitgleich schaltet jemand Licht in der unteren Etage ein. Ein junger Mann rennt die Treppen herauf, auf die Seals zu. Sie erschießen ihn. Es ist Bin Ladens Sohn Khalid. Dann treten zwei Amerikaner die Türe ein, die Bin Laden gerade zugeschlagen hat. (…) Bin Laden drückt seine jüngste Frau Amal vor sich als menschlicher Schutzschild. Er streckt sich über sein Bett, zur Kalaschnikow AK-47. Die Frau schreit, 'Nein, nein, tu das nicht.' Gleichzeitig feuern die Seals. Ein Schuss trifft die Matratze, ein anderer die Wade von Amal. Bin Laden versucht mit der Hand, seine AK-47 zu erreichen, die Soldaten schießen noch einmal. Diesmal treffen sie ihn: Ein Projektil trifft sein Brustbein, das andere zerfetzt seinen Hinterkopf. Osama bin Laden ist sofort tot." [8] Pfarrers Version kommt der offiziellen Version am nächsten. Dennoch bleiben Widersprüche.

Matt Bissonnette zufolge soll der Al-Qaida-Chef vom Soldat an der Spitze "noch von der Treppe aus" zweimal getroffen worden sein, als er von seinem Schlafzimmer aus in den Flur sah. Laut Chuck Pfarrer schaut er allerdings nur kurz aus seinem Schlafzimmer und schlägt dann die Tür zu, die anschließend eingetreten wurde. Nach dieser Version wird Bin Laden erst im Schlafzimmer getroffen. Der Elitesoldat will die tödlichen Schüsse ebenfalls erst im Schlafzimmer abgefeuert haben.

Pfarrer spricht auch - wie zunächst Regierungssprecher Jay Carney und Präsidentenberater John O. Brennan - von Gegenwehr, Bin Laden habe sich in seinem Schlafzimmer über sein Bett gestreckt und nach der Kalaschnikow gegriffen. Glaubt man Bissonnette, war er freilich sofort tot und lag bereits am Boden, als Bissonnette mit anderen Seals ins Schlafzimmer stürmte. Nach den Angaben des Elitesoldats stand Bin Laden im Schlafzimmer und wurde erst dort niedergeschossen. Gerne würde man anhand eines Grundrisses oder mithilfe von Fotos die genaue Position Bin Ladens, des Bettes sowie der Waffen überprüfen. Und warum, falls er das noch tun konnte, sollte der Al-Qaida-Chef überhaupt nach einer nicht geladenen AK-47 greifen?

Nach der ersten Version benutzt Bin Laden seine jüngste Frau Amal angeblich als menschliches Schutzschild (Elitesoldat und Pfarrer), nach der zweiten Version stürzt sie auf die Amerikaner zu und wird mit einem Schuss am Bein verletzt (US-Regierung unmittelbar nach dem Einsatz), nach der dritten Version stehen im Schlafzimmer lediglich zwei Frauen in langen Kleidern laut wehklagend neben einem Mann, der am Boden liegt und sich in Todeszuckungen krümmt (Bissonnette).

Bissonnette will auf der Treppe der zweite Mann hinter dem sogenannten Point Man gewesen sein, laut Phil Bronstein, der den Bericht für das Esquire-Magazin schrieb, war es jedoch der Elitesoldat, der dem Point Man folgte. [9]

Und ganz nebenbei: Pfarrer gibt angeblich die Sicht der beteiligten und von ihm interviewten Navy Seals wieder, doch ob diese den Ausruf der Jeminitin Amal Ahmed Adu al Fattah "Nein, nein, tu das nicht" verstehen konnten, ist fraglich (sie hat ihn in dieser Stresssituation bestimmt nicht auf englisch, sondern vermutlich auf arabisch herausgeschleudert). Gemeinhin sind die Fremdsprachenkenntnisse von US-Soldaten überschaubar. Selbstverständlich konnte man den Ausruf nachträglich anhand der von Helmkameras aufgenommenen Videoaufzeichnungen rekonstruieren, doch diese werden der Öffentlichkeit bis dato vorenthalten, weshalb es über den genauen Ablauf wenig Gewissheit gibt.

Interessant sind indes nicht die divergierenden Versionen, sondern die Frage, ob die US-Regierung Osama bin Laden ggf. fangen oder von vornherein exekutieren wollte. Bin Laden war unbewaffnet und hat nicht geschossen, die Waffen im Schlafzimmer waren ungeladen - hätte man da von einer bestens ausgebildeten und in der Beherrschung von Nahkampftechnik versierten Elitetruppe nicht erwarten können, ihn lebend zu überwältigen, um den Terror-Chef danach vor ein ordentliches Gericht zu bringen? Ein Prozess gegen Bin Laden wäre zweifellos spannend geworden, aber vielleicht wollte man - aus welchen Gründen auch immer - genau das vermeiden. Im Anti-Terror-Kampf läuft so viel unter der Decke, da wäre schon ein Zipfelchen Öffentlichkeit womöglich äußerst störend gewesen. Vielleicht werden Historiker einst aufgrund von freigegebenen Dokumenten mehr von dem berichten können, was in Abbottabad und andernorts wirklich geschah. Bis dahin ist gegenüber Meldungen, egal woher sie stammen, ein gesundes Misstrauen angebracht.

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[1] Die Welt-Online vom 11.02.2013
[2] Focus-Online vom 12.02.2013
[3] tagesschau.de vom 31.08.2012
[4] Wikipedia, Operation Neptune’s Spear, Verlauf
[5] Morgenweb vom 03.09.2012
[6] Mitteldeutsche Zeitung-Online vom 01.02.2013
[7] tagesschau.de vom 08.05.2011
[8] Süddeutsche-Online vom 08.11.2011
[9] Esquire vom 11.02.2013, The Man Who Killed Osama bin Laden