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19. Februar 2013, von Michael Schöfer
Prozess gegen einen Toten


In Moskau bereitet die Justiz derzeit einen Prozess gegen den Anwalt Sergei Leonidowitsch Magnitski vor, ihm wird von den Behörden Steuerhinterziehung zur Last gelegt. Kein Kavaliersdelikt also. Man hat ihm bereits einen Pflichtverteidiger zugeordnet. Das Ganze hat jedoch einen kleinen Schönheitsfehler: Magnitski ist seit November 2009 tot. Das Vorgehen der russischen Justiz gegen einen Toten stößt weltweit auf Kritik und wird als vorläufiger Tiefpunkt des Putinismus bezeichnet. Damit tut man dem russischen Präsidenten Wladimir Wladimirowitsch Putin natürlich total unrecht. Die westlichen Politiker, darunter befinden sich bekanntlich zahlreiche Juristen, sollten vielmehr die ungeahnten Möglichkeiten erkennen, die solche Prozesse bieten.

Zugegeben, der Angeklagte wird bei der Angabe seiner Personalien ebenso Probleme haben wie mit der Ehrerbietung gegenüber dem hohen Gericht. Und die Prognose, dass die Kommunikation mit seinem Pflichtverteidiger schwierig werden könnte, ist leider nicht von der Hand zu weisen. Aber wahrscheinlich macht Magnitski ohnehin von seinem Recht Gebrauch, zu den Vorwürfen zu schweigen. Die Richter werden ihm das bestimmt nicht ankreiden. Folglich kann man Putins Justiz kaum vorwerfen, gegen internationale Mindeststandards in Strafprozessen zu verstoßen. Magnitski bekommt zweifellos ein faires Verfahren, diesbezüglich sind von ihm bislang auch keinerlei Beschwerden bekannt. Der Prozess hat noch einen weiteren Vorteil: Magnitski kann der Höchststrafe, zehn Jahre Arbeitslager, mit großer Gelassenheit entgegensehen.

Das sollte uns ermutigen, diese wirklich epochale Revolution auf dem Gebiet der Jurisprudenz positiv zu begleiten. Man könnte etwa auf die Idee kommen, Napoleon Bonaparte wegen "Führen eines Angriffskrieges" nachträglich den Prozess zu machen. Immerhin hat der französische Kaiser 1812 Moskau erobert - was sich weder für ihn noch für die Moskauer als Vergnügen herausgestellt hat. Entschuldigen Sie, liebe Leserinnen und Leser, aber die Verbannung auf die Insel St. Helena war doch ein krasses Fehlurteil. Viel zu milde! Heute liegen dort die Touristen an den Stränden herum und bezahlen dafür sogar horrende Preise. Das soll Strafe sein? Unter Wladimir Wladimirowitsch wäre Bonaparte nicht so glimpflich davongekommen. Das kann man jetzt, Putin sei Dank, korrigieren. Und bei dieser Straftat gibt es nur eine einzige Möglichkeit: die Todesstrafe. Ich bin sicher, Napoleon Bonaparte wird sein Todesurteil mannhaft entgegennehmen.

Wäre ich Engländer, hätte ich ein gesteigertes Interesse daran, die Untaten Heinrichs VIII. sühnen zu lassen, schließlich hat der blutrünstige Regent zwei Ehefrauen (Catherine Howard und Anne Boleyn) aus nichtigen Gründen enthaupten lassen. Weil er überdies wegen der Scheidung seiner Ehe mit Katharina von Aragón eine Kirchenspaltung verursachte, dürften auch die Verantwortlichen im Vatikan noch unchristliche Rachegelüste hegen. Mein Gott, welche Möglichkeiten Prozesse gegen Tote in sich bergen: Wir Deutsche könnten nachträglich unseren GröFaZ (Größter Feldherr aller Zeiten) aburteilen. Gewissermaßen als Ausgleich dafür, dass wir viel zu lange die noch lebenden Nazis vor jeglicher juristischen Belästigung verschont haben. Justizirrtümer wären revidierbar, etwa die gegen Galileo Galilei oder Giordano Bruno. Vorteil für die Staatskasse: Die Behörden müssten trotzdem keinen Schadenersatz leisten, alle Ansprüche darauf sind längst verjährt.

Wer wegen dem Prozess gegen Magnitski auf Putin schimpft, verkennt total das Genie dieses Mannes. Ich glaube, auf diese brillante Idee ist nicht einmal ein gewisser Josef Wissarionowitsch Dschughaschwili gekommen, den meisten besser unter dem Namen Stalin geläufig. Und der war immerhin anerkannter Experte für Schauprozesse. Bei ihm galt noch die traditionelle Reihenfolge: Erst Schauprozess, dann Tod - nicht umgekehrt. Meines Wissens gibt es nur ein einziges historisches Vorbild: Papst Stephan VI. ließ 897 neun Monate nach dessen Tod die schon verwesende Leiche seines Vorgängers Formosus exhumieren, "um ihn wegen angeblicher Missbräuche während seines Pontifikats aburteilen zu lassen". [1] Natürlich wurde Formosus schuldig gesprochen. Ich hoffe, Putin wird wenigstens davor zurückschrecken, Magnitskis Leiche zu exhumieren. Selbst in Russland sind die Emissionsvorschriften mittlerweile etwas schärfer als die von 897. Allerdings taugt dieses makabre Schauspiel genau besehen kaum als Vorlage für den Moskauer Prozess, denn Stephan VI. wurde noch im gleichen Jahr gestürzt. Ob das ein Menetekel für den russischen Präsidenten ist? Wer weiß, wer weiß... So hat wohl letztlich alles seinen Sinn.


Historisches Vorbild: dem toten Formosus wird 897 der Prozess gemacht
[Quelle: Wikipedia, Musée d’arts de Nantes, Foto: Gérard Blot, Bild ist public domain]


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[1] Wikipedia, Leichensynode