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26. Februar 2013, von Michael Schöfer
Schuld ist die untaugliche Krisenbewältigung


Die mit Spannung erwarteten Wahlen in Italien haben kein eindeutiges Ergebnis gebracht. Das sozialdemokratische Linksbündnis von Pier Luigi Bersani hat zwar das Abgeordnetenhaus knapp (mit lediglich 124.000 Stimmen Vorsprung) für sich entscheiden können, aber im Senat herrschen unklare Mehrheitsverhältnisse. Alle Gesetze müssen, wie in den USA, von beiden Häusern beschlossen werden. Vor allem die Stärke des Populisten Berlusconi überrascht, was von Beppe Grillos Gruppierung zu erwarten ist, bleibt vorerst im Dunkeln. Prozentual haben jedenfalls sowohl im Abgeordnetenhaus als auch im Senat die Euro-Gegner die Mehrheit, nur wegen des skurrilen Wahlsystems sieht es im Abgeordnetenhaus bei der Sitzverteilung anders aus (dort erhält das stärkste Wahlbündnis automatisch die absolute Mehrheit der Mandate). Es ist unklar, wie es nun weitergeht. Man spekuliert bereits über eine Änderung des Wahlsystems und anschließende Neuwahlen. Das kennt man ja mittlerweile: So lange wählen, bis dabei das gewünschte Ergebnis herauskommt.

Bezeichnend sind die Kommentare in der deutschen Presse: "Märkte reagieren skeptisch. Die Aktienkurse an der Börse in Mailand rutschten ins Minus ab. (...) Der Euro-Kurs geriet unter Druck. (…) Aus ökonomischer Sicht sei ein politisches Patt unglücklich, aber kein Desaster, erklärte der Chefvolkswirt der Berenberg Bank, Holger Schmieding." [1] "Angesichts des unklaren Wahlergebnisses folgte die Reaktion an den Finanzmärkten prompt. So zogen zum Beispiel die Renditen auf italienische Staatsanleihen an, damit stieg der Risikoaufschlag auf Papiere des Staates. Der Euro fiel auf den tiefsten Stand seit Anfang Januar. (…) Brüssel sowie die Finanzmärkte befürchteten, dass bei einem Wahlsieg Berlusconis die Schuldenkrise wieder aufflammen könnte." [2] "Italiener erschrecken die Märkte." [3] Um nur drei Beispiele zu nennen, die aber durchaus repräsentativ für die hiesige Wahlberichterstattung sind.

Nun sind die "Märkte" in einer durchökonomisierten Welt sicherlich nicht unwichtig, zumal in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise. Aber geht es nicht doch in erster Linie um das Schicksal von Menschen? Der Sparkurs hat die italienische Wirtschaft auf Talkurs geschickt, laut Eurostat lag die Arbeitslosenquote im Dezember 2012 bei 11,2 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit sogar bei 36,6 Prozent. [4] Tendenz steigend. Dabei geht die Schuldenquote (Anteil der Staatsschulden am BIP) nicht einmal zurück, laut Eurostat betrug sie im dritten Quartal 2012 127,3 Prozent, im dritten Quartal 2011 waren es dagegen noch 119,9 Prozent. [5] Tendenz also ebenfalls steigend. Wie soll auch die Schuldenquote fallen, wenn der Sparkurs die Wirtschaft abwürgt? Italien zeigt abermals: Man kann sich nicht aus der Krise sparen. Am Ende ist man ärmer geworden und sitzt dennoch auf höheren Schulden als zuvor. Das Gleiche erleben wir ja in anderen Krisenstaaten.

Banale, aber kaum verbreitete Erkenntnis: Die Schuldenquote steigt WEGEN des Sparkurses. Und da die eigentlichen Verursacher der Krise, die Finanzmärkte, bislang fast gar nicht zur Finanzierung des von ihnen angerichteten Schlamassels herangezogen wurden, ist der Unmut der Bevölkerung nachvollziehbar, schließlich geht es beim Sparen offenkundig ungerecht zu. Was haben die Medien anderes erwartet? Dürfen nur Anleger ihre Interessen geltend machen, Bürger jedoch nicht? Sind nur die Interessen der Märkte gerechtfertigt, die Interessen der Bevölkerung hingegen bestenfalls naiv bis schlimmstenfalls irrational? Und ist es nicht ein Treppenwitz der Geschichte, dass ausgerechnet die "Experten", die vor der Krise jämmerlich versagt haben, nun von den Bürgern Einsicht in scheinbar alternativlose Marktgesetze verlangen? Marktgesetze, die sie aber vor 2007 irgendwie übersehen haben müssen. Es ist einfach grotesk: Bruchpiloten wollen anderen Flugunterricht erteilen.

Es ist diese de facto untaugliche, aber von der Mehrheit der Medien trotzdem bejubelte Krisenbewältigung, die derartige Wahlergebnisse hervorruft. Kein Wunder, wenn ein Europa, das vor allem die Märkte, aber augenscheinlich nicht die Bürger im Fokus hat, rapide an Sympathie verliert. Wer Probleme hat, seine Miete oder den Strom zu bezahlen, dem sind die anonymen Märkte wahrscheinlich vollkommen gleichgültig. Im Gegenteil, hier staut sich Hass auf. Weil der Sparkurs die prekäre Situation in den Krisenstaaten verschärft anstatt zu lindern, sind die italienischen Wahlen wohl nur ein Vorgeschmack auf das, was uns noch bevorsteht. Es droht nämlich nicht bloß der Kollaps der Wirtschaft, nein, es droht gleich der Kollaps des politischen Systems. Da die angeblich besonnenen Parteien hauptsächlich die Märkte bedienen, bleibt den Menschen zwangsläufig nichts anderes übrig, als sich in die Arme von mehr oder minder dubiosen Populisten zu stürzen. Viel schlimmer: In einigen Ländern, etwa Griechenland und Ungarn, sind sogar Rechtsextreme auf dem Vormarsch. Haben unsere Politiker keine Lehren aus den politischen Verwerfungen während der Wirtschaftskrise in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gezogen? Erstaunlicherweise werden sowohl die ökonomischen wie auch die politischen Fehler wiederholt.

Damals hat man die Krise erfolgreich mit Investitionen bekämpft, die teilweise durch drastische Steuererhöhungen für die Begüterten finanziert wurden. Also genau jene Kreise, welche heute gerne als "die Märkte" bezeichnet werden. Doch die sind anscheinend sakrosankt. Obwohl in Deutschland lediglich 15,7 Prozent der Bevölkerung Aktien oder Aktienfondsanteile besitzen, starren die Medien zuerst auf das Geschehen an den Börsen. Und Börsianer kommentieren dann kurioserweise politische Ereignisse, von denen überwiegend die restlichen 84,3 Prozent der Bevölkerung betroffen sind. Kurzum, ein absurdes Theater. Wenn gleichzeitig, wie etwa auf dem Gebiet der Erneuerbaren Energien, Investitionen zurückgestutzt werden, kann das nur schiefgehen. Reichskanzler Brüning lässt grüßen.

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[1] Süddeutsche vom 26.02.2013
[2] Spiegel-Online vom 26.02.2013
[3] n-tv vom 26.02.2013
[4] Eurostat, Pressemitteilung vom 01.02.2013
[5] Eurostat, Pressemitteilung 12/2013 - 23. Januar 2013, PDF-Datei mit 156 kb


Nachtrag (28.02.2013):
"Die Gesamtzahl der Aktionäre und Besitzer von Aktienfondsanteilen in Deutschland war im zweiten Halbjahr 2012 wieder rückläufig. Insgesamt waren 8,8 Mio. Anleger direkt oder indirekt in Aktien investiert. Dies entspricht 13,7 % der Bevölkerung." [6]

[6] Deutsches Aktieninstitut, DAI-Kurzstudie 1 / 2013, PDF-Datei mit 103 kb