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13. März 2013, von Michael Schöfer
Der kranke Mann Europas


Nun jährt sich die Verkündung von Gerhard Schröders "Agenda 2010" zum zehnten Mal. "Wenn Schröder damals so mutlos regiert hätte wie Angela Merkel heute, stünden wir jetzt in einer Reihe mit Italien, Frankreich und Spanien vor deutlich größeren Problemen inmitten der Euro-Krise", suggeriert Frank-Walter Steinmeier. [1] Und in der SPD bekommt das "Reformprogramm" des Altkanzlers wieder Beifall, gerade wurde er in der SPD-Bundestagsfraktion dafür gefeiert. Hier wird eifrig an Legenden gestrickt. Angesichts dessen muss man in der Tat verschärft darüber nachdenken, was man im September wählt. Peer Steinbrück und seine Sozialdemokraten jedenfalls nicht.

Deutschland sei der kranke Mann Europas, titelten die Gazetten damals, als uns Schröder mit seiner Agenda-Politik beglückte. Die Wirtschaftsverbände fordern mittlerweile eine "Agenda 2020", ganz so als hätten wir nicht schon genug Sozialabbau gehabt. Auch die Rente mit 69 ist erneut im Gespräch, es wird gelegentlich sogar von 70, 72 oder gar 75 gesprochen. Und in der Presse mehren sich bereits die Stimmen, die vor dem Rückfall in Vor-Agenda-Zeiten warnen. "Seit sieben Quartalen steigen die Arbeitskosten in Deutschland stärker als im Durchschnitt der EU. Das ist keine gute Meldung, weil sie nichts Gutes für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und für die Beschäftigten bedeutet", schreibt Sibylle Haas in der Süddeutschen. Entscheidend seien im internationalen Wettbewerb "vor allem die Arbeitskosten". "Wenn die Kosten schneller steigen als die Leistungskraft, dann verringert sich der Vorsprung zwangsläufig. Eine solche Tendenz darf sich nicht verfestigen. Deutschland war in den Neunzigerjahren in einer solchen Situation. Die Lohnkosten waren in die Höhe gestiegen." [2]

Das kommt natürlich ganz auf den Blickwinkel an. Bleiben wir bei der angeblich mangelnden Wettbewerbsfähigkeit. Ein Land, das nicht mehr wettbewerbsfähig ist, müsste Einbrüche beim Export und Einbußen in der Handelsbilanz aufweisen. Kurioserweise ist aber das Gegenteil der Fall: Anfang der neunziger und Anfang der sogenannten "Nullerjahre" hatte Deutschland in der Handelsbilanz prozentual die höchsten Zuwächse (1992: + 53,6 %, 1993: + 83,7 %, 2001: + 61,6 %, 2002: + 39,1 %). Das sind aber ausgerechnet die Zeiten, in denen Deutschland scheinbar wegen zu hoher Löhne krank daniederlag. Hätten die Agenda-Befürworter wirklich recht, müsste es genau umgekehrt sein. Ihre monokausale These ist offenbar falsch - und die Welt halt doch ein bisschen komplexer, als man uns weismachen will. Wettbewerbsfähig war Deutschland immer, wir haben in den letzten 20 Jahren stets Exportüberschüsse und kein einziges Mal einen Negativsaldo erwirtschaftet. Beim Export kam es lediglich 1993 und 2009 zu einem Rückgang, mit der Exportstatistik lässt sich demnach der herbe Einschnitt bei den Sozialleistungen unter Gerhard Schröder kaum rechtfertigen.

Wir müssten vielmehr die Frage stellen, wo die südeuropäischen Krisenstaaten heute stünden, wenn Deutschland in der Vergangenheit mehr importiert und ihnen damit geholfen hätte. Doch das hat die deutsche Lohnzurückhaltung vereitelt (zwischen 1992 und 2012 haben die deutschen Exporte um 219,8 % zugelegt, die Importe dagegen bloß um 178,9 %). Da die Überschüsse der einen logischerweise die Defizite der anderen sind (per Saldo ist die globale Handelsbilanz ausgeglichen, steht also exakt auf null), sind wir mit unserer aggressiven Exportorientierung an der jetzigen Misere keineswegs unschuldig. Allerdings das wird selten erwähnt. Leider muss man stattdessen Elogen auf Gerhard Schröder und seine Agenda-Politik lesen. Seltsamerweise rückt die SPD verbal in die andere Richtung, nämlich nach links. Aber eben nur verbal, es ist bekanntlich Wahlkampf. Das kennen wir schließlich zur Genüge, das sind wir von der SPD inzwischen gewohnt: links blinken, rechts abbiegen. Meine Prognose (falls er die Wahl gewinnen sollte): Diesbezüglich wird auch Peer Steinbrück keine Ausnahme sein.





Jahr Außenhandelsbilanz
in Mrd. Euro
Veränderung gegenüber dem
Vorjahr in Prozent [3]
1992 + 17,2 Mrd. €
+ 53,6%
1993 + 31,6 Mrd. € + 83,7%
1994 + 37,6 Mrd. € + 19,0%
1995 + 43,6 Mrd. € + 16,0%
1996 + 50,4 Mrd. € + 15,6%
1997 + 59,5 Mrd. € + 18,1%
1998 + 64,9 Mrd. € + 9,1%
1999 + 65,2 Mrd. € + 0,5%
2000 + 59,1 Mrd. € - 9,4%
2001 + 95,5 Mrd. € + 61,6%
2002 + 132,8 Mrd. € + 39,1%
2003 + 129,9 Mrd. € - 2,2%
2004 + 156,1 Mrd. € + 20,2%
2005 + 158,2 Mrd. € + 1,3%
2006 + 159,0 Mrd. € + 0,5%
2007 + 195,3 Mrd. € + 22,8%
2008 + 178,3 Mrd. € - 8,7%
2009 + 138,7 Mrd. € - 22,2%
2010 + 154,9 Mrd. € + 11,7%
2011 + 158,7 Mrd. € + 2,5%
2012 + 188,3 Mrd. € + 18,7%



Jahr Ausfuhr in Mio. Euro Zu- /Abnahme gegenüber dem Vorjahr in Prozent [3]
1992 343.180 Mio. €
+ 0,8%
1993 321.289 Mio. € - 6,4%
1994 353.084 Mio. € + 9,9%
1995 383.232 Mio. € + 8,5%
1996 403.377 Mio. € + 5,3%
1997 454.342 Mio. € + 12,6%
1998 488.371 Mio. € + 7,5%
1999 510.008 Mio. € + 4,4%
2000 597.440 Mio. € + 17,1%
2001 638.268 Mio. € + 6,8%
2002 651.320 Mio. € + 2,0%
2003 664.455 Mio. € + 2,0%
2004 731.544 Mio. € + 10,1%
2005 786.266 Mio. € + 7,5%
2006 893.042 Mio. € + 13,6%
2007 965.236 Mio. € + 8,1%
2008 984.140 Mio. € + 2,0%
2009 803.312 Mio. € - 18,4%
2010 951.959 Mio. € + 18,5%
2011 1.061.225 Mio. € + 11,5%
2012 1.097.349 Mio. € + 3,4%

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[1] Süddeutsche vom 09.03.2013
[2] Süddeutsche vom 11.03.2013
[3] Statistisches Bundesamt, Zusammenfassende Übersichten für den Außenhandel - vorläufige Jahresergebnisse, Fachserie 7 Reihe 1 - 2012, Excel-Datei mit 1,8 MB