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02. Juni 2013, von Michael Schöfer
Die Lage ist weiterhin total unübersichtlich


Nach einer Meldung der Moskauer Tageszeitung "Kommersant" will Russland dem syrischen Regime bis zum Jahresende Kampfflugzeuge des Typs "MiG-29" liefern [1], nachdem Assad von Moskau bereits moderne Flugabwehrraketen des Typs "S-300" erhalten haben soll [2]. Informationen über Waffenlieferungen sind naturgemäß oft lückenhaft, das gilt genauso für deren Anwendung in Konflikten. Über delikate Angelegenheiten legen die Beteiligten eben gerne den Mantel des Schweigens.

Vor kurzem haben die USA und die Türkei der Regierung in Damaskus vorgeworfen, gegen syrische Rebellen das Nervengas "Sarin" eingesetzt zu haben. Angeblich gebe es dafür stichhaltige Beweise, die man der Öffentlichkeit aber bislang vorenthalten hat. Deshalb lässt sich auch schwer beurteilen, ob an dem Vorwurf wirklich etwas dran ist. Zweifel daran sind jedenfalls nicht von der Hand zu weisen. Unlängst hieß es noch: "Die Vereinten Nationen (UN) haben Zeugenaussagen gesammelt, die auf den Einsatz des Nervengases Sarin in Syrien durch die Rebellen hindeuten." [3] Ja, was denn nun? Verwendung von Sarin durch die syrische Regierung oder durch die syrischen Rebellen? Oder sogar durch beide? Vielleicht auch durch keinen. So genau weiß das offenbar niemand.

Gerade wurden in der Türkei mutmaßliche Mitglieder der zum Terrornetzwerk Al-Kaida gehörenden Al-Nusra-Front festgenommen, die einen Giftgas-Anschlag gegen US-Truppen im Süden der Türkei geplant haben sollen. Türkische Sicherheitskräfte hätten einen zwei Kilo schweren Zylinder mit dem Kampfgas Sarin sichergestellt, heißt es, was türkische Behördenvertreter allerdings dementieren. [4] Der UN-Sicherheitsrat hat die Organisation soeben auf die Terror-Liste gesetzt. "Jabhat al-Nusra gehört zu den schlagkräftigsten Einheiten der syrischen Rebellen." [5]

Das muss man dick unterstreichen: Al-Nusra gehört zu den syrischen Rebellen! Und falls die Meldungen über die Sicherstellung von 2 kg Sarin korrekt sind, taucht das auch die angebliche Verwendung des Nervengases durch syrische Truppen in ein anderes Licht. Baschar al-Assad ist gewiss kein Waisenknabe, aber könnte es nicht sein, dass man ihm einen Giftgas-Einsatz unterjubeln will, weil die Rebellen den Westen unbedingt in den syrischen Bürgerkrieg hineinziehen wollen? Assad wäre doch ausgesprochen dumm, um eines kleinen taktischen Vorteils willen das strategische Risiko einer westlichen Intervention einzugehen. Zumindest ist die bisherige Zurückhaltung bei der Belieferung der syrischen Opposition mit Waffen gerechtfertigt, denn maßgebliche Teile von ihr wollen anscheinend keine Demokratie. Wir würden damit womöglich den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Wie der Westen bei einer Belieferung der Rebellen sicherstellen will, dass diese Waffen nicht in die falschen Hände geraten, ist vollkommen schleierhaft.

Die irakische Regierung will ebenfalls eine Zelle des Terrornetzwerkes Al-Kaida zerschlagen haben, die Giftgas verwenden wollte. "Die Geheimdienste des Verteidigungsministeriums hätten von Anfang an Kenntnis von zwei Produktionsstätten für Sarin- und Senfgas in der Hauptstadt Bagdad und einer weiteren in der Provinz gehabt, sagte ein Ministeriumssprecher (...). Das Gas war demnach auch für Anschläge in Europa und Nordamerika vorgesehen." [6] Ob man freilich mit der bei "tagesschau.de" gezeigten Laborausstattung tatsächlich Sarin herstellen kann, ist fraglich. Darüber hinaus lässt deren Präsentation durch irakische Soldaten starke Zweifel aufkommen.

Bereits ein halbes Milligramm des Nervengases Sarin reicht aus, um einen Erwachsenen zu töten. 1 Milligramm = 1 Tausendstel Gramm. Das Nervengas ist leicht flüchtig (d.h. es verdampft schon bei Raumtemperatur) und wird neben den Atmungsorganen auch über die Augen oder die Haut aufgenommen. "Ausreichenden Schutz gegen das Eindringen von Sarin in den Körper bietet daher nur ein Ganzkörper-Schutzanzug mit Schutzmaske", schreibt Wikipedia. [7] Zumindest bei dem linken Soldat auf dem Bild ist zu erkennen, dass er keinen Ganzkörper-Schutzanzug trägt, da Kopf und Hals - abgesehen von der Atemschutzmaske - ungeschützt sind. Bei der Uniform handelt es sich überdies um eine aus normalem Stoff, echte Ganzkörper-Schutzanzüge sehen jedenfalls anders aus. Zudem waren auch die Journalisten, denen man das angebliche Nervengas präsentiert hat, wohl kaum mit Ganzkörper-Schutzanzügen ausgestattet. Die martialische Aufmachung weckt zwar auf den ersten Blick Ängste, was wahrscheinlich beabsichtigt war, entpuppt sich aber bei näherem Hinsehen als Theater. Entweder ist die Pressekonferenz absolut dilettantisch abgelaufen und damit hochgefährlich gewesen, oder es handelte sich abermals bloß um einen Propagandatrick. Es wäre schließlich nicht das erste Ammenmärchen, das man der Weltöffentlichkeit auftischt.

Die Lage ist daher weiterhin total unübersichtlich. Und es gibt allen Anlass, den vorgelegten Meldungen zu misstrauen.

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[1] Ria Novosti vom 01.06.2013
[2] Ria Novosti vom 31.05.2013
[3] Focus-Online vom 06.05.2013
[4] Schweiz Magazin vom 31.05.2013
[5] DiePresse.com vom 31.05.2013
[6] Focus-Online vom 01.06.2013
[7] Wikipedia, Sarin, Wirkungsweise