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05. Juli 2013, von Michael Schöfer
Das Raubtier hinter unserem Rücken


Wenn die Informationen der französischen Zeitung "Le Monde" zutreffen, lässt Frankreich den Datenverkehr mit vergleichbarer Intensität überwachen wie die USA und Großbritannien. Danach speichert der französische Auslandsgeheimdienst "DGSE sämtliche Emails, SMS, den kompletten Telefonverkehr sowie Facebook- und Twitter-Einträge". [1] Und just am "Independence Day" der Vereinigten Staaten wurde bekannt, dass dort der gesamte Postverkehr überwacht wird. Geschichte ist zuweilen unfreiwillig komisch. Von den jährlich rund 160 Milliarden Postsendungen erfassen Computer nach einem Bericht der "New York Times" routinemäßig Absender und Empfänger. [2] Inhalte werden angeblich nicht gelesen. Ob Al-Kaida-Chef Eiman al-Sawahiri auf Briefen, falls er überhaupt welche schreiben und in die USA schicken sollte, seine korrekte Absenderadresse hinterlässt (Pakistan, Süd-Waziristan, Makeen, Straße des 14. August Nr. 3a), ist allerdings eher unwahrscheinlich. Die Bespitzelung der Bürger wird immer monströser, und sie scheint in allen wichtigen westlichen Industriestaaten praktiziert zu werden. Die Empörung unserer Politiker ist demzufolge pure Heuchelei.

Die Terroristen werden gewiss jubeln, denn der Westen gibt peu à peu seine Prinzipien auf. Alte Guerillataktik: Lasse deinen Gegner allmählich zum Monster mutieren. Und die Crux ist: Wir spielen auch noch bereitwillig mit. Entgegen unseren hehren Ansprüchen wird im bzw. durch den Westen gefoltert, gemordet sowie der Rechtsstaat sukzessive ausgehöhlt. Worin unterscheidet sich denn etwa der Drohnenkrieg der USA, dem regelmäßig unschuldige Frauen und Kinder zu Opfer fallen, von den Anschlägen am 11. September? Aus der Sicht der Opfer und deren Angehörigen besteht da überhaupt kein Unterschied, höchstens dass bei den Anschlägen in New York und Washington die ganze Welt vor den Bildschirmen saß, während die Luftschläge in Pakistan oder andernorts überwiegend im Verborgenen stattfinden. Wir nehmen sie bestenfalls durch kleine Randnotizen zur Kenntnis. Im Gegensatz zum 11. September hält sich die Empörung beim Drohnenkrieg in engen Grenzen. Jedenfalls bei uns. Es sind ja bloß pakistanische Frauen und Kinder, keine amerikanischen. Doppelmoral, wird das üblicherweise genannt.

Man schämt sich mittlerweile für das Verhalten unserer Politiker. Der Eklat um die Sperrung des Luftraumes für die Präsidentenmaschine von Evo Morales, bloß weil man in ihr den Whistleblower Edward Snowden vermutete, ist an Erbärmlichkeit und Arroganz kaum zu überbieten. Manche behaupten, darin zeige sich die Unterwürfigkeit der Europäer gegenüber den USA. Stimmt nicht, in Wahrheit ist es Komplizenschaft. Snowdens Veröffentlichungen sind nämlich nicht nur für die Geheimdienste der USA gefährlich, sie sind eine Gefahr für fast jeden westlichen Geheimdienst, schließlich stecken sie alle mehr oder minder unter einer Decke. Die Enttarnung von "Big Brother" bereitet den Überwachern großes Kopfzerbrechen, denn das Volk könnte die Bespitzelung als Bedrohung der Demokratie interpretieren. Snowdens Antrag, in Deutschland Asyl zu bekommen, war daher ziemlich naiv. Wir hätten ihn bestimmt ausgeliefert, schon allein zur Abschreckung potenzieller Nachahmer.

Die Gesellschaft hat ein legitimes Sicherheitsbedürfnis, dieses steht jedoch naturgemäß im Widerspruch zu den Bürgerrechten. Eine permanente Gratwanderung. Momentan werden aber die Bürgerrechte im Namen der Sicherheit mehr und mehr zur Seite geschoben - Luxus, den wir uns im Kampf gegen den Terror anscheinend nicht mehr erlauben können. Die juristischen Barrieren haben Mühe, der rasanten Entwicklung der Überwachungstechnik zu folgen. Die Totalüberwachung ist nicht mehr nur denkbar, sie ist offenbar bereits Realität. Und man fragt sich unwillkürlich, wo das Ganze endet. Ist das noch "die Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk" (Abraham Lincoln)? Die Zweifel wachsen. Letztlich kann jeder durch die Speicherung seiner Kommunikation gezielt diskreditiert werden, in den USA genügt hierfür bei Politikern und Militärs schon die Veröffentlichung außerehelicher Affären. Man kann davon ausgehen, dass illegal beschaffte Informationen irgendwann auch illegal verwendet werden. Außerdem ist es das Recht des Bürgers darüber zu entscheiden, welche Informationen er von sich preisgibt (informationelle Selbstbestimmung). Der Anspruch des Staates, alles über seine Bürger wissen zu wollen, ist mit der Demokratie unvereinbar. Der Staat ist für die Menschen da, nicht umgekehrt.

Noch sind wir uns der Gefahr für die eigene Freiheit nicht so bewusst, wie es eigentlich notwendig wäre. Noch rechtfertigt die Angst vor dem Terror vieles. Wir starren zwar genauso gebannt auf den Terrorismus wie die Maus auf die Schlange, übersehen dabei aber das eigenhändig herangezüchtete Raubtier, das hinter unserem Rücken lauert. Für die Maus endet so etwas bekanntermaßen oft tödlich.

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[1] Die Welt-Online vom 04.07.2013
[2] Spiegel-Online vom 04.07.2013