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20. Juli 2013, von Michael Schöfer
Sonntagsreden


Es ist reiner Zufall, dass der 20. Juli dieses Jahr auf einen Samstag fällt. Aber unabhängig vom jeweiligen Wochentag hören wir an dem Tag, an dem wir dem Widerstand gegen die Nazi-Diktatur gedenken, nur substanzlose Sonntagsreden. Phrasen, mehr nicht. Bloß fällt das anno 2013 aus aktuellem Anlass stärker auf als sonst.

Wir wissen heute, dass viele um Claus Schenk Graf von Stauffenberg keine parlamentarische Demokratie im Auge hatten, als sie Adolf Hitler durch ein Attentat töten wollten. Schwamm drüber. Was sollen wir dessen ungeachtet aus dem Widerstand, der sich beileibe nicht nur auf den Kreisauer Kreis beschränkte, lernen? [1] "Befehl und Gehorsam haben da ihre Grenzen, wo gegen Recht und Menschenwürde verstoßen wird", meint Bundespräsident Joachim Gauck. "Die Bundeswehr wolle Soldatinnen und Soldaten, die nicht nur Befehle ausführten, sondern 'kritisch mitdenken und für ihre Überzeugungen in Wort und Tat einstehen'. (…) Der 20. Juli erinnere an jene Soldaten, die letztlich ihrem Gewissen den Vorrang vor Befehl und Gehorsam gaben. Aus ihrer Haltung habe die Bundeswehr eine klare Richtschnur für die Nachfolgenden entwickelt: 'Auch Soldaten haben die Pflicht zum Widerstand, wenn die freiheitlich demokratische Grundordnung gefährdet ist.'" [2]

Reden wir an diesem Punkt einmal über Edward Snowden und die monströsen Überwachungsprogramme der Amerikaner, mit denen massiv gegen unsere Grundrechte verstoßen wird (Informationelle Selbstbestimmung, Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, Verhältnismäßigkeitsprinzip etc.). Snowden wollte Barack Obama nicht töten, er wollte lediglich die Weltöffentlichkeit auf das wahre Ausmaß der Überwachung aufmerksam machen. "Befehl und Gehorsam haben da ihre Grenzen, wo gegen Recht und Menschenwürde verstoßen wird", sagt Gauck. Gilt das bloß für Stauffenberg oder auch für Snowden? Der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter ist seinem Gewissen gefolgt, hat kritisch mitgedacht und Widerstand geleistet. Wenn die freiheitlich demokratische Grundordnung gefährdet ist, wird Widerstand sogar zur Pflicht, mahnt der Bundespräsident. Und wer will behaupten, dass die Totalüberwachung nicht die freiheitlich demokratische Grundordnung gefährdet? Niemand. Im Gegenteil, sie könnte leicht in ein totalitäres System münden. Wir alle kennen doch Ovids zutreffenden Satz: Wehret den Anfängen!

Gewiss, Obama ist nicht Hitler. Und die USA sind nicht mit dem Nazi-Regime gleichzusetzen. Aber ob die USA angesichts der Missachtung der Grundrechte wirklich noch eine echte Demokratie sind, daran darf mit Fug und Recht gezweifelt werden. Der antiamerikanischen Umtrieben völlig unverdächtige Heribert Prantl schreibt dazu in der Süddeutschen: "In den Staaten der westlichen Welt ist, angeführt von den USA, ein merkwürdiger Prozess der Umkehrung rechtsstaatlicher Logik im Gang: Die Rechtsstaatlichkeit misst sich offenbar nicht mehr daran, dass man die Grundrechte einhält. Stattdessen werden die Verletzungen von Grundrechten damit gerechtfertigt, dass ja ein Rechtsstaat sie vornehme. Der Begriff 'Rechtsstaat' wird seines Inhalts entblößt und ungeachtet dessen einfach gesetzt. Die Vereinigten Staaten begründen auch die größten Anrüchigkeiten auf diese Weise: Man sei ja ein Rechtsstaat; das adelt dann vermeintlich auch noch das Waterboarding." [3]

Die Widerstandsgruppe Weiße Rose (Hans und Sophie Scholl, Christoph Probst, Willi Graf, Alexander Schmorell, Kurt Huber) kämpfte allein mit dem Wort gegen Hitler. Leider vergeblich, wie man weiß. Nehmen wir an, den Geschwistern Scholl wäre damals die Flucht in einen fiktiven Staat namens BRD gelungen. Hätte die BRD ihnen Asyl gewährt oder sie ans Dritte Reich ausgeliefert? Natürlich Asyl gewährt, werden jetzt alle unisono rufen. Im Nachhinein weiß man es natürlich immer besser. Doch 1942/1943? Hand aufs Herz! Da hätte die Kanzlerin dieses fiktiven Staates womöglich gesagt: "Das Auswärtige Amt und das Innenministerium haben festgestellt, dass nach der Rechtslage dies nicht einzuhalten ist. Deutschland ist ein Rechtsstaat. Die Voraussetzungen liegen nicht vor." [4] In Wahrheit ist es Angela Merkels Verdikt über Snowdens Asylgesuch (in Bezug auf die Geschwister Scholl genießt sie glücklicherweise die "Gnade der späten Geburt"). Ein unzulässiger Vergleich? Total überzogen? Keineswegs, wie ich meine. Snowden ist - wie von Joachim Gauck gefordert - nur seinem Gewissen gefolgt. Und der ursprüngliche Rechtsbruch liegt ganz auf Seiten der amerikanischen Regierung.

"Die Fähigkeit zur Selbstkorrektur ist eine der großen Stärken unserer Demokratie", stellt Bundespräsident Gauck fest. Vollkommen zu Recht, genau das unterscheidet uns von autoritären Systemen. Aber wenn wir am 20. Juli bloß Sonntagsreden halten, uns im Alltag jedoch unterwürfig und indifferent zeigen, nützen all die schönen Worte nichts. Gar nichts. Sie sind dann lediglich Theater fürs geneigte Publikum. Man klopft sich gegenseitig auf die Schulter - und lässt Edward Snowden im Transitbereich des Moskauer Flughafens Scheremetjewo versauern. Ist es nicht ein Treppenwitz der Geschichte, dass ihm ausgerechnet der "lupenreine Demokrat" Wladimir Putin zu Hilfe eilt? Wir sollten uns schämen. Vor allem dann, wenn wir wieder einmal das Handeln der Frauen und Männer des Widerstands gegen die Nazi-Diktatur loben.

"Ihr werdet unsere Demokratie und unser Engagement für eine bessere Welt nicht zerstören", gelobte Norwegens Ministerpräsident Jens Stoltenberg noch am Abend der Massenmorde von Oslo und der Insel Utøya. Drei Tage nach dem Attentat sagte er in seiner Rede bei dem Trauergottesdienst im Osloer Dom: "Noch sind wir geschockt, aber wir werden unsere Werte nicht aufgeben. Unsere Antwort lautet: mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Menschlichkeit." [5] Der norwegische Kronprinz Haakon mahnte ebenfalls: "Nach dem 22. Juli gibt es keine Ausrede mehr für den Kampf um eine freie und offene Gesellschaft." [6] Bewundernswerte demokratische Gesinnung, insbesondere so kurz nach einem derart unglaublich brutalen Verbrechen. Was haben uns dagegen die USA nach dem 11. September beschert? Guantanamo, Abu Ghuraib, CIA-Geheimgefängnisse, den PATRIOT Act, PRISM und wer weiß was sonst noch alles. Welch fundamentaler Unterschied! Und Angela Merkel? Die erfährt von alldem mal wieder nur aus der Presse.

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[1] siehe Wikipedia, Liste der Attentate auf Adolf Hitler
[2] Deutschlandfunk vom 20.07.2013
[3] Süddeutsche vom 20.07.2013
[4] Die Welt-Online vom 19.07.2013
[5] Wikipedia, Anschläge in Norwegen 2011, Reaktionen in Norwegen
[6] Spiegel-Online vom 26.07.2011