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03. August 2013, von Michael Schöfer
Ob das weiterhilft?


Bis sich ein Bewusstseinswandel wirklich durchgesetzt hat, dauert es mitunter Generationen. Von daher war von vornherein klar, dass die Arabellion nicht unmittelbar in eine Demokratie westlichen Zuschnitts mündet. Ebenso, dass der Übergang, falls er überhaupt gelingt, von Rückschlägen geprägt sein würde. Schließlich hat es auch in Europa rund hundertfünfzig Jahre gedauert (von Napoleon und der Restauration der Bourbonen bis zum Ende der Nazi-Diktatur), bis die Früchte der Französischen Revolution reif waren und endlich stabile demokratische Verhältnisse herrschten. Die Herausbildung von Demokratien ist ein unendlich zähflüssiger kultureller Prozess, der sich nicht bloß auf das formale Abhalten von Wahlen beschränkt. Wahlen sind nur die äußere Form, gewissermaßen die Fassade. Wichtig ist ist jedoch die dahinterstehende Substanz (eine Kultur der Toleranz, die Beachtung der Grundrechte). Und diese Substanz entwickelt sich halt nicht über Nacht. Zudem sind die Beharrungskräfte des Überkommenen meist riesengroß, es bedarf eines grundlegenden mentalen Wandels bei der Mehrheit der Bevölkerung, um sie zurückzudrängen und letztlich zu besiegen.

Wer sich nicht von den Demonstranten auf dem Tahrir-Platz und den euphorischen Berichten über die ägyptische Facebook-Generation blenden ließ, hat noch vor dem Sturz von Husni Mubarak leise Zweifel daran angemeldet, ob das, was bei uns daheim über die Bildschirme flimmerte, wirklich repräsentativ für Bevölkerung ist. [1] Die Armut war und ist im Land am Nil weit verbreitet. "Mehr als 20 Prozent der Ägypterinnen und Ägypter leben unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Auf dem Index der menschlichen Entwicklung nimmt Ägypten Rang 112 von 187 Ländern ein", schreibt das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung [2]. Andere Quellen sprechen sogar von 40 oder 50 Prozent unterhalb der Armutsgrenze. Wie dem auch sei, jedenfalls können sich viele Ägypter weder ein Handy noch einen Computer leisten.

Der Ausgang der ersten freien Parlamentswahlen (November 2011 bis Januar 2012) war mithin weniger überraschend, als er von den westlichen Medien dargestellt wurde. Die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei der Muslimbrüder bekam 37,5 Prozent, die salafistische Partei des Lichts 27,8 Prozent. Also eine satte Mehrheit für die Islamisten (mehr als 70 Prozent der Parlamentssitze). Der Vorsitzende der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei, Mohammed Mursi, gewann im Juni 2012 auch die Präsidentschaftswahlen.

Die Politik der Muslimbrüder, die zum Putsch der Armee im Juli 2013 führte, war einerseits sicherlich von schleichender Islamisierung sowie ökonomischer Unfähigkeit geprägt. Andererseits hat das Establishment, zu dem Polizei und Armee gehören, im Hintergrund offenbar kräftig Sand ins Getriebe gestreut, denn kurz nach dem Putsch gab es plötzlich wieder Strom, Benzin und Brot. Ein Indiz dafür, dass die Wirtschaftskrise, die Anfang des Jahres zu erneuten Massenprotesten führte, zumindest teilweise künstlich herbeigeführt wurde, um sie anschließend den Islamisten in die Schuhe zu schieben. In der Politik wird bekanntlich mit allen Tricks gearbeitet.

Jetzt sind jedenfalls wieder die alten Kräfte um Generaloberst Abd al-Fattah as-Sisi an der Macht, garniert von einer zivilen Übergangsregierung aus dem liberalen politischen Lager. Übergangs-Premierminister ist Hasim al-Beblawi, ein Gründungsmitglied der Ägyptischen Sozialdemokratischen Partei. Die SDP trat bei den Parlamentswahlen gemeinsam mit anderen liberalen und linksgerichteten Parteien in einem Bündnis an, das allerdings nur 8,9 Prozent der Stimmen auf sich vereinte. Die SDP erhielt lediglich 16 der 498 gewählten Sitze (10 weitere der insgesamt 508 Parlamentarier wurden vom Militärrat ernannt).

"US-Außenminister John Kerry hat den Sturz der demokratisch gewählten Regierung Ägyptens durch die Armee als Entscheidung im Sinne des Volkes gerechtfertigt. 'Das Militär wurde von Millionen und Abermillionen Menschen zum Einschreiten gebeten, die allesamt Angst davor hatten, in Chaos und Gewalt abzugleiten', sagte Kerry einem Fernsehsender während eines Besuches in Pakistan. (…) 'Letztlich wurde dadurch die Demokratie wiederhergestellt.'" [3] Das muss man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen: Kerry präsentiert uns die Tatsache, dass die ägyptische Übergangsregierung von einem Mann geführt wird, dessen Partei bloß 3,2 Prozent der Parlamentssitze errang, als Wiederherstellung der Demokratie. Das ist nicht nur dreist, das ist grotesk.

Nehmen wir an, in Berlin demonstrieren Millionen gegen Angela Merkel. Würde Kerry das ebenfalls als Rechtfertigung eines Militärputsches der Bundeswehr heranziehen? Vor allem, wenn danach der Vorsitzende einer Splitterpartei Übergangs-Kanzler würde? Um nicht falsch verstanden zu werden: Demonstrationen sind ein demokratisches Grundrecht, das durchaus politische Signale senden kann und soll. Genauso wie Meinungsumfragen. Aber die Mutter aller Umfragen ist eben immer noch die Bundestagswahl. Mit anderen Worten: Auch wenn Millionen gegen Merkel demonstrieren, ist das noch lange kein Grund, die Regierung abzusetzen. Es sei denn, sie tritt aufgrund der Proteste freiwillig zurück oder schlägt, wie ehedem Gerhard Schröder, vorzeitige Neuwahlen vor. In Demokratien entscheiden allein Wahlen über das Wohl und Wehe von Regierungen. Und das ist auch gut so.

Das, was uns John Kerry in Bezug auf Ägypten anzubieten hat, ist eine Farce. Die USA haben womöglich aus Angst vor einem drohenden ägyptischen Gottesstaat seit langem im Hintergrund die Fäden gezogen, gute Kontakte zum ägyptischen Militär gibt es ja mehr als genug. Und jetzt präsentiert man uns die Restauration der alten Machtelite, bemäntelt durch eine Marionetten-Regierung, als Rückkehr zur Demokratie. Angenommen, bei den nach einer Übergangsphase angekündigten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen werden abermals die Muslimbrüder gewählt (sofern sie nicht massenhaft in den Gefängnissen sitzen) - was dann? Das, was wir momentan erleben, muss nämlich nicht mit dem Willen des ägyptischen Volkes übereinstimmen. Es stimmt möglicherweise bloß mit dem Willen der dünnen Mittelschicht und vor allem mit den Interessen der noch dünneren Oberschicht überein.

Gibt es Demokratie nur, solange dabei auch die richtigen Ergebnisse herauskommen? Gewiss, die Macht der Islamisten gab Anlass zur Sorge. Ein neuer Gottesstaat à la Iran wäre zweifellos schlimm. Allerdings muss man sich fragen, ob Letzterer wirklich gedroht hat. Außerdem: Wie sollen die arabischen Völker demokratische Prinzipien akzeptieren lernen, wenn freie Wahlen im Bedarfsfall durch die Macht der Gewehre annulliert werden? Und das auch noch mit Billigung der USA, die andere gerne darüber belehren, was man gefälligst unter Demokratie zu verstehen habe. Von daher ist gar nicht auszuschließen, dass uns die aktuelle Entwicklung in Kairo noch schwer auf die Füße fallen wird.

Die arabischen Völker werden die Bekenntnisse des Westens zur Demokratie bestimmt als Lippenbekenntnisse interpretieren (was sie genau besehen auch sind). Die liberale Mittelschicht ist dort noch gar nicht stark genug, um sich allein durchzusetzen. Aber sie wird durch den Militärputsch desavouiert. Was passiert eigentlich, wenn die Wirtschaft weiterhin darniederliegt und die Menschen beginnen, gegen die Übergangs-Regierung zu demonstrieren? Das Konzept, sich auf nichtrepräsentative Bevölkerungsschichten zu stützen, ist zwar altbekannt, aber schon einmal gründlich schief gegangen. Und was soll sich positiv ändern, wenn man alten Wein immer nur in neue Schläuche packt? Ob das weiterhilft, ist deshalb zu bezweifeln.

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[1] siehe Was wissen wir? vom 06.02.2011
[2] BMZ, Ägypten - Situation und Zusammenarbeit
[3] tagesschau.de vom 02.08.2013