Home | Archiv | Leserbriefe | Impressum



26. August 2013, von Michael Schöfer
Für einige scheint die Schuldfrage bereits festzustehen


Ich möchte vorausschicken, dass sich keinerlei Sympathie für Baschar al-Assad hege, dem ich jede Schandtat zutraue. Ich habe aber für die radikalislamistischen Teile der syrischen Opposition genauso wenig Sympathien, weil ich ihnen ebenfalls jede Schandtat zutraue. Giftgasangriffe inklusive. Leid tun mir natürlich die Zivilisten, die unter den Kämpfen furchtbar zu leiden haben.

Aber solange nicht wirklich feststeht, wer für den Giftgasangriff in der Nähe von Damaskus verantwortlich ist, haben militärische Reaktionen überhaupt keinen Sinn. Sowohl das Regime von Assad als auch bestimmte Gruppen der Opposition verfügen über Chemiewaffen. Glaubt man den - zugegebenermaßen umstrittenen - Berichten, sind in der Türkei und im Irak Al-Kaida-Mitglieder im Besitz von Giftgas gewesen. [1] Gruppen, die sich an den Kämpfen in Syrien beteiligen. Anfang Juni hat eine Untersuchungskommission der UN festgestellt, es gebe hinsichtlich eines zurückliegenden Giftgaseinsatzes "glaubwürdige Hinweise für den Einsatz von Chemiewaffen durch beide Konfliktparteien". [2]

Wir können also momentan nur darüber spekulieren, wer für den jüngsten Giftgaseinsatz verantwortlich ist. Was das Motiv angeht, hat Assad derzeit wohl am wenigsten Grund, zu Chemiewaffen zu greifen. Seine Armee hat schließlich auf dem Schlachtfeld die Oberhand. Im Gegenteil, es wäre wegen des Risikos eines westlichen Militäreinsatzes und der damit einhergehenden Niederlage sogar ausgesprochen dumm. Andererseits muss man mit einem Blick in die Geschichtsbücher konstatieren, es gibt auch unglaublich dumme Politiker. Die syrische Opposition, seit langem militärisch in der Defensive, hätte dagegen allen Grund, Giftgas zu verwenden, weil sich dadurch der Westen unter Umständen in den Bürgerkrieg hineinziehen lässt. Setzen westliche Luftangriffe die Luftwaffe des Regimes in Damaskus außer Gefecht, könnte sich das Blatt auf dem Schlachtfeld wieder zugunsten der Rebellen wenden. Da die Öffentlichkeit in der Vergangenheit oft angelogen wurde, man denke bloß an die nicht existierenden Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins, ist freilich erhöhtes Misstrauen angebracht.

Es wird viel Gegensätzliches über den Giftgaseinsatz in der Nähe von Damaskus geschrieben. "In arabischen Medien kursieren sehr unterschiedliche Bewertungen. So meldet die saudische Zeitung Al-Scharq unter Berufung auf die Freie Syrische Armee, dass eine Eliteeinheit des Regimes, angeführt vom Bruder des Präsidenten, Mahir al-Assad, gegen den Widerstand des zuständigen Kommandanten Chemiewaffen entwendet und zum Einsatz gebracht haben soll. Mahir hat den Kommandanten demzufolge erschossen und eigenmächtig Giftgas eingesetzt. Das mag erklären, warum das Regime zunächst gezögert hat, Chemiewaffeninspektoren Proben am Ort des Geschehens nehmen zu lassen", bemerkt die taz. [3] Mahir al-Assad gilt als skrupellos, unbeherrscht und grausam. Der Bericht könnte also durchaus zutreffen.

Auf der anderen Seite wurde vor einem Jahr gemeldet: "Laut internationaler Medienberichte im August 2012, die sich auf Aussagen russischer, westlicher und golfarabischer Diplomaten beriefen, soll sich Mahir al-Assad seit einem Bombenanschlag in Damaskus im Juli 2012, bei dem er ein oder sogar beide Beine verlor, in lebensbedrohlichem Gesundheitszustand befinden." [4] Falls Mahir tatsächlich ein oder gar beide Beine verloren hat, ist es wiederum fraglich, ob er den Kommandanten einer Chemiewaffen-Einheit erschossen hat und das Giftgas eigenmächtig eingesetzte. Denn in diesem Fall sind seinen Aktivitäten auf dem Schlachtfeld wahrscheinlich Grenzen gesetzt.

Was stimmt, ist bislang ungeklärt. Aber nur aufgrund von Vermutungen sollten wir uns zu keinem militärischen Eingreifen hinreißen lassen. Das heißt für den Augenblick: Beweise sammeln. Warten wir doch erst einmal die Ergebnisse der UN-Experten ab. Für einige scheint die Schuldfrage allerdings schon vor der Beweiserhebung festzustehen: "Großbritannien macht die syrische Regierung für den Giftgasangriff verantwortlich. Alle Informationen deuteten daraufhin, bestätigte Außenminister Hague am Sonntagabend. (...) Es gebe ein 'Bündel Belege' dafür, dass es am 21. August einen Chemiewaffeneinsatz bei Damaskus gegeben habe, sagte Präsident François Hollande. Alles deute darauf hin, dass die syrische Regierung dafür verantwortlich sei." [5] Ein "Bündel Belege"? Belege von der Qualität, wie sie 2003 der damalige US-Außenminister Colin Powell dem UN-Sicherheitsrat vorlegte? Alles gelogen, wie wir heute wissen. [6]

Sollte sich am Ende jedoch hieb- und stichfest herausstellen, dass es wirklich die syrische Regierung war, die die mehr als 1.300 Toten auf dem Gewissen hat, darf man ihr das keinesfalls durchgehen lassen. Da im Westen niemand an einem Bodenkrieg interessiert ist, wird es in diesem Fall aller Voraussicht nach Luftangriffe auf die Streitkräfte Assads geben. Vielleicht beschließt man auch, eine Flugverbotszone einzurichten. Gleichwohl könnte sich das Ganze rasch als politisches Abenteuer entpuppen. Militärisch zuzuschlagen ist angesichts der technologischen Überlegenheit des Westens vergleichsweise leicht. Reingehen ist oft easy, aber wie wieder herauskommen? Und was folgt danach? Kommt es zum Regimewechsel? Wer wird dann die Macht haben? Gerät das Ganze womöglich außer Kontrolle und entwickelt sich zum regionalen Flächenbrand? Fragen, über die man derzeit ebenfalls nur spekulieren kann. Niemand ist um diese Verantwortung zu beneiden.

----------

[1] Focus-Online vom 01.06.2013
[2] Spiegel-Online vom 04.06.2013
[3] taz vom 25.08.2013
[4] Wikipedia, Mahir al-Assad
[5] Spiegel-Online vom 25.08.2013
[6] Deutschlandradio vom 05.02.2013


Nachtrag (28.08.2013):
Die Zeit präsentiert uns eine weitere Variante, danach ist der Schuldige nicht Mahir al-Assad, sondern Hafez Maklouf, ein Cousin von Präsident Baschar al-Assad und der Chef der Staatssicherheit. Die in Dubai (Vereinigte Arabische Emirate) erscheinende Zeitung "The National" berichtete unter Berufung auf eine "sehr gut vernetzte Familie, die Kontakte zum Regime und zur Opposition unterhält": "Die örtlichen Kommandeure pochten darauf, sie hätten nicht gewusst, dass die Raketenköpfe mit Kampfgas beladen gewesen seien. Sie hätten die Geschosse erst wenige Stunden vorher bekommen und abgefeuert in der Annahme, es seien konventionelle Raketen. Die Giftgasraketen seien auf Befehl von Hafez Maklouf angeliefert worden." Verschossen wurden die Giftgasraketen "nach Erkenntnissen der syrischen Opposition von der Kaserne der 155. Brigade aus, die etwa zehn Kilometer vom Tatort entfernt liegt". [7]

[7] Die Zeit-Online vom 27.08.2013