Home | Archiv | Leserbriefe | Impressum



25. September 2013, von Michael Schöfer
Zwangsheirat


Brad Pitt fordert George Clooney auf, Angelina Jolie zu heiraten. Nein, nein, erwidert Clooney, meiner Meinung nach passt ihr viel besser zusammen. Stimmt gar nicht, insistiert Pitt, ihr beide seid doch wie geschaffen füreinander. Wenn es in Hollywood so zugehen würde, wäre das womöglich der Auftakt zu einer herzerfrischenden Komödie. Doch das Ganze findet in Deutschland statt und nennt sich Regierungsbildung. Außerdem ist es keine Komödie, sondern ein Drama.

Thorsten Schäfer-Gümbel, der Spitzenkandidat der hessischen SPD, sagte zum Ausgang der Landtagswahl: "Das Wahlergebnis hat sich kein Mensch gewünscht." [1] Vielleicht nicht die Politiker, die sich jetzt abermals mit den berühmt-berüchtigten "hessischen Verhältnissen" herumschlagen dürfen, aber die Wählerinnen und Wähler. Hessische Verhältnisse gibt es derzeit auch in Berlin. Nach der Bundestagswahl will keiner mit keinem. Jedenfalls offiziell: Seehofer mag nicht mit den Grünen reden. Die Grünen behaupten, sie hätten eine wesentlich kleiner Schnittmenge mit der Union als die SPD. Die SPD wiederum fordert die Grünen auf, Verantwortung zu zeigen und gefälligst mit der Union zu koalieren. Die Linke will natürlich weiterhin Rot-Rot-Grün, aber der Parteizeitung "Neues Deutschland" kann man auch den skurrilen Vorschlag "Schwarz-Rot ohne CSU" entnehmen. [2] Dazu müsste Angela Merkel so etwas wie "Kreuth 2.0" in Angriff nehmen. Nur unter umgekehrten Vorzeichen. Den Gedanken kann man deshalb gleich wieder vergessen. Wann kommt eigentlich eine Koalition der Union mit der Linkspartei ins Spiel, diese Variante hat bislang noch keiner empfohlen?

Es stimmt: Angela Merkel hat seit dem 22. September im Bundestag keine Mehrheit, zur sogenannten Kanzlermehrheit (absolute Mehrheit der Mitglieder des Bundestages) fehlen der Union läppische fünf Mandate. Die beträgt nämlich 316 Stimmen, die CDU hat jedoch bloß 255 und die CSU 56, macht zusammen 311. SPD (192), Linke (64) und Grüne (63) kommen auf 319 Mandate [3], könnten also gemeinsam ohne das Risiko einer Neuwahl einzugehen gemäß Artikel 63 Abs. 2 Grundgesetz einen Bundeskanzler wählen. Wenigstens theoretisch. Doch nicht jede Theorie ist gleichbedeutend mit einer realen Möglichkeit.

Helmut Kohl wäre beinahe schon 1976 Kanzler geworden. Mit 48,6 Prozent bekam die Union bei der Bundestagswahl am 3. Oktober deutlich mehr Stimmen als die SPD unter Helmut Schmidt mit 42,6 Prozent. Gerettet wurde Schmidt damals von der FDP, die 7,9 Prozent erreichte. Grüne und Linkspartei gab es damals noch keine, auch keine Piraten oder AfD. Im Bundestag saßen lediglich vier Parteien: SPD (224 Mandate) CDU (201), CSU (53) und FDP (40). Die Kanzlermehrheit im 8. Deutschen Bundestag lag bei 260 Stimmen, die Union hatte aber bloß 254. [4] Kohl fehlten ganze sechs Mandate, Schmidt blieb Bundeskanzler.

Rechnerisch war die Situation für die Union seinerzeit ähnlich wie heute - knapp vorbei ist bekanntlich trotzdem vorbei. Allerdings kann man nur arithmetische Parallelen ziehen, keine politischen. Die sozialliberale Koalition aus SPD und FDP hatte Mitte der siebziger Jahre wesentlich mehr Gemeinsamkeiten als SPD, Grüne und vor allem Linke anno 2013. Gewiss, es gibt Schnittmengen, etwa in der Frage des gesetzlichen Mindestlohns. Und es ist in der Tat ein reizvoller Gedanke, dass die drei Parteien noch vor einer möglichen Koalitionsbildung, wie immer die am Ende aussehen mag, kurzerhand mit ihrer Mehrheit den gesetzlichen Mindestlohn beschließen. CDU und CSU würden sich in dieser Frage plötzlich im Abseits wiederfinden. Denkbar wäre sogar ein rot-grünes Minderheitskabinett unter Duldung der Linken. Mit wechselnden Mehrheiten operieren? Im Bundestag ein Novum. In der Presse wird ständig über ein Minderheitskabinett der Union spekuliert, doch das ist offenbar, falls die Union partout keinen Partner findet, nicht die einzige Alternative. Aber wäre so etwas auch politisch gangbar? Es dürfte klar sein, dass eine derartige Lösung unter erheblichem publizistischen Feuer stehen würde. Das geht nur, wenn man fest zusammenhält und die Duldungsphase den Großteil der Legislaturperiode übersteht. Insbesondere für die Sozialdemokraten ein Vabanquespiel, dafür fehlt der SPD schlicht und ergreifend der Mumm. Rot-Rot-Grün ist gegenwärtig innerparteilich nicht durchsetzbar. Man kann es beklagen, gleichwohl ist es Fakt.

Was wird also passieren? Vermutlich wird die SPD den Preis für den Eintritt in die Große Koalition ein bisschen nach oben treiben wollen und sich daher zunächst etwas zieren. Am Ende läuft es trotz allem auf eine Neuauflage von Schwarz-Rot hinaus. Für beide ist das keine Liebesheirat, sondern vielmehr eine Zweckehe. Angesichts der Wahl zwischen Pest und Cholera könnte man diese Koalition fast als Zwangsheirat bezeichnen. Doch solange alles andere (rasche Neuwahl, SPD/Grüne-Minderheitskabinett unter Duldung der Linken oder Rot-Rot-Grün) aus der Sicht der Sozialdemokraten als die wesentlich schlimmere Variante erscheint, wird sie sich der naheliegendsten kaum verweigern. Es sei denn, die Grünen werden unerwartet mutig und probieren Schwarz-Grün. Das ist zwar nicht unmöglich, aber unwahrscheinlicher als Schwarz-Rot. Die exotischeren Vorschläge haben in einer Zeit, in der Angela Merkel sich - warum auch immer - im Zenit ihrer Beliebtheit befindet, wenig Realisierungschancen. Sie sind nichts anderes als Glasperlenspiele. Nett anzusehen, aber das war's dann auch. Zumindest vorerst.

----------

[1] Süddeutsche vom 23.09.2013
[2] Neues Deutschland vom 25.09.2013
[3] Bundeswahlleiter, Vorläufiges Ergebnis der Bundestagswahl 2013, Sitzverteilung
[4] Wikipedia, Bundestagswahl 1976