Home | Archiv | Leserbriefe | Impressum



27. September 2013, von Michael Schöfer
Kapitaler taktischer Fehler


Angela Merkel wird ja immer taktische Raffinesse unterstellt, was ihr den Spitznamen "Schwarze Witwe" einbrachte. Wer ihr zu nahe kommt, den saugt sie gnadenlos aus. Politische Leichen pflastern ihren Weg, das gilt für innerparteiliche Gegner ebenso wie für Koalitionspartner. Angie hat bislang noch jeden kleingekriegt respektive mehr oder minder elegant abserviert: Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble, Friedrich Merz, Edmund Stoiber, Norbert Röttgen. Den Sozialdemokraten ist die schwarz-rote Koalition (2005-2009) genauso schlecht bekommen wie der FDP die schwarz-gelbe (2009-2013).

Doch mit der taktischen Raffinesse von Merkel ist es, entgegen dem weitverbreiteten Mythos, nicht allzu weit her. Das hat die Bundestagswahl am 22. September bewiesen, denn der vermeintliche Triumph entpuppt sich genaugenommen als blamables Unvermögen. Um das zu erklären muss man ein bisschen ausholen: Bei der Landtagswahl in Niedersachsen am 20. Januar 2013 habe die CDU den Fehler begangen, die Zweitstimmenkampagne der FDP zu dulden, heißt es. "Die FDP konzentriert sich auf die Zweitstimmen - das ist normal und vollkommen in Ordnung", sagte CDU-Ministerpräsident David McAllister verständnisvoll. [1] Angeblich kostete das McAllister die Macht, die Gewinne der Liberalen gingen - oberflächlich betrachtet - auf Kosten der CDU. Am Ende hieß es dann hauchdünn 46,3 Prozent zu 45,9 Prozent für Rot-Grün. Stephan Weil (SPD) wurde neuer Ministerpräsident.

Vor der Bundestagswahl trat deshalb die CDU der Zweistimmenkampagne ihres Koalitionspartners energisch entgegen. "Jede Partei wirbt für sich", sagte Generalsekretär Hermann Gröhe. "Die Union hat keine Stimme zu verschenken." [2] Nach dem desaströsen Abschneiden der FDP bei der bayerischen Landtagswahl (3,3 %) regierte im Thomas-Dehler-Haus die Panik, fortan bettelten die Liberalen hemmungslos um Zweitstimmen. Rainer Brüderle: "Geben Sie der FDP wenigstens Ihre Zweitstimme." Laut Süddeutscher Zeitung hat FDP-Parteichef Philipp Rösler fünf Tage vor der Bundestagswahl bei Angela Merkel angerufen und um Verständnis für die aggressive Zweitstimmenkampagne gebeten. Er sei jedoch abgeblitzt, Niedersachsen dürfe sich nicht wiederholen, habe ihm Merkel bedeutet. [3]

Ob die Zweitstimmenkampagne der Liberalen David McAllister damals wirklich die Wahl gekostet hat, ist fraglich. In Niedersachsen verlor nämlich die CDU gegenüber der vorherigen Landtagswahl satte 6,5 Prozent, während die FDP bloß 1,7 Prozent hinzugewann. Allein mit der Zweitstimmenkampagne der niedersächsischen Liberalen sind die viel größeren Verluste der CDU also kaum zu erklären. Dennoch war genau das die allgemein akzeptierte Interpretation. Und das darf der Union im Bund keinesfalls passieren, lautete seitdem die Parole. In den Gazetten las man allenthalben, Zweitstimmen für die FDP gingen bloß zulasten der Union, weil Überhangmandate nach dem neuen Wahlrecht vollständig ausgeglichen werden. Die Wählerinnen und Wähler haben das offensichtlich geschluckt und sich entsprechend verhalten.

Am 22. September erzielten CDU/CSU zusammen 41,5 Prozent, die FDP flog bekanntlich mit mageren 4,8 Prozent erstmals aus dem Bundestag. Nun fehlen Angela Merkel fünf Mandate zur absoluten Mehrheit, aber knapp vorbei ist bekanntlich auch daneben. Was wäre gewesen, wenn es die FDP in den Bundestag geschafft hätte? Nehmen wir an, die Liberalen hätten auf Kosten der Union winzige 0,7 Prozent mehr bekommen und dadurch 5,5 Prozent erreicht. Die Union mit 40,8 Prozent und die FDP mit 5,5 Prozent wären im Besitz der Kanzlermehrheit. Das hätte folgendes Ergebnis bedeutet: Schwarz-Gelb gewinnt mit 46,3 Prozent gegenüber Rot-Rot-Grün mit 42,7 Prozent (SPD 25,7 %, Linke 8,6 %, Grüne 8,4 %) klar und deutlich die Bundestagswahl. Die jetzt existierende rechnerische Mehrheit der bisherigen Oppositionsparteien wäre demzufolge gar nicht entstanden.

Warum hat man in der Union die Lage derart krass verkannt? Hat Angela Merkel, der man gemeinhin großes taktisches Geschick nachsagt, schlicht und ergreifend übersehen, dass ihr eine erfolgreiche Zweitstimmenkampagne der FDP selbst dann genützt hätte, wenn Brüderle, Rösler & Co. wider Erwarten wie in Niedersachsen auf 9,9 Prozent gekommen wären? Dann stünde es trotzdem 46,3 zu 42,7 zugunsten von Schwarz-Gelb (Union 36,4 %, FDP 9,9 %). Diese eklatante Fehleinschätzung ist aus der Sicht der Union ein kapitaler taktischer Fehler gewesen. Unterstellt, Merkel wollte die schwarz-gelbe Koalition tatsächlich fortsetzen, hätte die Union die Zweitstimmenkampagne der FDP stillschweigend dulden, wenn nicht sogar ausdrücklich unterstützen müssen. Jedenfalls wären ihr dann die verzwickten Mehrheitsverhältnisse und die mühsamen Koalitionsverhandlungen mit der SPD oder den Grünen erspart geblieben. Sollte sie es insgeheim auf eine absolute Mehrheit der Union abgesehen haben, hat sie sich offenkundig verrechnet. Letzteres würde allerdings implizieren, den parlamentarischen Tod der FDP in Kauf genommen bzw. bewusst herbeigeführt zu haben, was wiederum die Aversion der SPD gegen eine große Koalition erklärt. Sich mit der "Schwarzen Witwe" ins Ehebett zu legen, könnte für die SPD genauso tödlich enden. Grüne dito.

Seltsamerweise hat der Nimbus Merkels, sich taktisch stets klug zu verhalten und darin allen anderen haushoch überlegen zu sein, bislang keinen Schaden genommen. Wenig überraschend, denn die Presse schweigt sich darüber aus, es wird derzeit lediglich über taktische Fehler der Sozialdemokraten und der Grünen berichtet. Doch das ist, wie man oben sieht, nur die halbe Wahrheit. Der FDP die parlamentarische Existenz zu retten, hätte von der Union bloß Stillhalten erfordert. Minimaler Aufwand, aber maximaler Ertrag. Entweder kann man im Konrad-Adenauer-Haus nicht rechnen oder hat sich schwer verkalkuliert. Höchstens, der Wahlausgang entsprach haargenau Angela Merkels Wunsch, um die SPD in den nächsten Jahren endgültig klein zu kriegen. Und die FDP gleich mit. Zwei Fliegen mit einer Klappe sozusagen. Dann müsste man vor ihr in der Tat den Hut ziehen und Merkel das taktische Geschick eines Bobby Fischer attestieren, der 1956 in der "Partie des Jahrhunderts" mit seinem 17. Zug die Dame opferte, um zum Schluss seinen Gegner mit dem 41. Zug schachmatt zu setzen. Genial. Ist Angela Merkel ähnlich brillant oder war sie vor der Bundestagswahl bloß dilettantisch? Wir werden es sehen.

----------

[1] Stern-Online vom 05.01.2013
[2] Spiegel-Online vom 16.09.2013
[3] Süddeutsche vom 27.09.2013