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24. Oktober 2013, von Michael Schöfer
Die spinnen, die Römer Amerikaner!


"Willst du den Charakter eines Menschen erkennen, so gib ihm Macht", riet einst Abraham Lincoln, der 16. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Das hätte sich der amerikanische Nachrichtendienst NSA hinter die Ohren schreiben sollen, aber stattdessen glänzten die Schlapphüte bloß mit Ignoranz und Hybris. Lincoln hätte sich darüber gewiss köstlich amüsiert: "Habe ich nicht recht gehabt?" Stimmt, die Rechnung ist voll aufgegangen. Nur ist das Ergebnis wenig schmeichelhaft ausgefallen, denn das Experiment hat die Charakterschwäche der amerikanischen Regierung zum Vorschein gebracht. Einer Institution, der Lincoln einmal selbst vorstand.

Angeblich wurde 2010 nicht nur der damalige mexikanische Präsident Felipe Calderón überwacht, sondern später auch sein Nachfolger Enrique Peña Nieto. Die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff soll ebenso zum illustren Kreis der "Terrorverdächtigen" gehören, wie die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel oder der italienische Ministerpräsident Enrico Letta. Hoffentlich landen sie nicht allesamt auf der Terrorliste der Vereinten Nationen, das würde zweifellos Staatsbesuche künftig stark behindern. Mittlerweile stellt man sich schon besorgt die Frage, wer nicht überwacht wird. Früher galt es als Imageverlust, den Dienstwagen oder die Bodyguards zu verlieren. Heutzutage ist unter Politikern das Nichtüberwachtwerden die schlimmste Strafe, denn wer sich nicht im Visier der Geheimdienste befindet, ist offenbar unwichtig.

Angela Merkel werde mitnichten überwacht, versichert dagegen der Sprecher des Weißen Hauses. Doch wer wird ihm noch glauben? Es wäre schließlich nicht die erste Lüge, nur die vorläufig letzte. In Amerika wird ständig gebetet, und besonders inbrünstig tun das Politiker. Doch das achte Gebot "Du sollst nicht lügen" ist ihnen anscheinend unbekannt. Zumindest wird es nicht beachtet. In God we trust - welch bodenlose Heuchelei. In Wahrheit trauen die Amerikaner niemandem, nicht einmal sich selbst. Es lebe die Paranoia. Gäbe es Gott wirklich, die NSA hätte ihn bestimmt angezapft. So muss sie sich wohl mit seinem Stellvertreter auf Erden begnügen. Oder gehört der Papst etwa zu den Unwichtigen? Im Grunde undenkbar, denn wer als Kirchenoberhaupt mit einem gebrauchten R4 herumfährt und in einer bescheidenen Zwei-Zimmer-Wohnung lebt, ist per se verdächtig. Jorge Mario Bergoglio ist wohl der erste Papst, den die Amerikaner insgeheim des Kommunismus bezichtigen. Eine Kirche für die Armen - hatte Karl Max nicht ähnlich argumentiert, lediglich unter Verzicht auf die Kirche?

Die Amerikaner sind dumm. Saudumm sogar, weil sie nicht merken, dass sie sich den letzten Rest an Sympathie verscherzen. Es entsteht vielmehr der Eindruck, man könne die USA mit China und Russland in einen Topf werfen. Das ist natürlich töricht, weil auch jetzt noch die wenigsten unter russischer oder chinesischer Vorherrschaft leben wollen. Amerika ist diesbezüglich nach wie vor das kleinere Übel. Genau das ist jedoch der eigentliche Kern der Sache: Die USA werden nicht mehr als nachahmenswertes Vorbild angesehen, man empfindet bestenfalls ein bisschen Wehmut, das "Land der Freien" ist nämlich längst zum Leviathan mutiert.

Unsere Politiker sind genau besehen nicht viel besser. Als es darum ging, die Überwachung der Bürger zu rügen, hat Angela Merkel konsequent geschwiegen. Erst als Mitte des Jahres herauskam, dass die NSA EU-Einrichtungen in New York, Washington und Brüssel belauschte, ließ sich Regierungssprecher Steffen Seibert zu der Bemerkung herab: "Abhören von Freunden, das geht gar nicht, das ist inakzeptabel. Wir sind nicht mehr im Kalten Krieg." [1] Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich erklärte den Schutz vor Überwachung zur Privatangelegenheit und postulierte ein "Supergrundrecht" auf Sicherheit, hinter dem alle anderen Grundrechte zurückzutreten hätten. Seitdem suchen Verfassungsrechtler im Grundgesetz nach dem "Supergrundrecht Sicherheit". Bislang allerdings vergeblich. Und überhaupt, es sei alles gar nicht wahr, was da über die Geheimdienste behauptet werde. Kanzleramtschef Ronald Pofalla erklärte daraufhin die Angelegenheit kurzerhand für beendet. Das ist, freundlich ausgedrückt, unglaublich naiv. Den Hohn und Spott, dem beide ausgesetzt waren, hatten sie sich redlich verdient. Und heute müssten sie vor Scham im Boden versinken.

Erst jetzt, nachdem herauskam, dass die NSA über Jahre hinweg auch das Handy der Kanzlerin überwacht haben soll, meldet sich unsere Regierung erneut zu Wort. Regierungssprecher Steffen Seibert zufolge habe Angela Merkel in einem Telefonat mit US-Präsident Obama deutlich gemacht, "'dass sie solche Praktiken, wenn sich die Hinweise bewahrheiten sollten, unmissverständlich missbilligt und als völlig inakzeptabel ansieht' (...). Unter engen Freunden und Partnern dürfe es eine solche Überwachung der Kommunikation eines Regierungschefs nicht geben. 'Dies wäre ein gravierender Vertrauensbruch. Solche Praktiken müssten unverzüglich unterbunden werden.'" [2] Ob Merkel während des Telefongesprächs wütend mit den Beinen aufstampfte, wurde leider nicht überliefert. Wie war das nochmal? Abhören von Freunden geht gar nicht? Komisch, dass sich unsere Regierung immer erst dann aufregt, wenn staatliche Institutionen von der amerikanischen Bespitzelung betroffen sind. Die Rechte der Bürger sind Merkel offenbar gleichgültig. Hauptsache, ihr eigenes Handy ist tabu.

Man hätte schon gern gewusst, was die Regierung gegen die Bespitzelung konkret tut. Immerhin veröffentlicht Edward Snowden seit Juni peu à peu seine Erkenntnisse. Worte allein genügen nicht. Vor allem, wenn sie obendrein im Schonwaschgang daherkommen. Ob dazu im schwarz-roten Koalitionsvertrag mehr als nur ein paar wachsweiche Formulierungen stehen? Kaum anzunehmen. Frei nach Asterix: Die spinnen, die Amerikaner! Stimmt, aber nicht bloß die.

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[1] Basler Zeitung vom 01.07.2013
[2] Hamburger Abendblatt vom 24.10.2013