Home | Archiv | Leserbriefe | Impressum



29. Oktober 2013, von Michael Schöfer
Unfehlbarkeit


Das 19. Jahrhundert hatte es wirklich in sich, und seine Auswirkungen spüren wir bis heute. 1870 wurde zum Beispiel auf dem Ersten Vatikanischen Konzil die Unfehlbarkeit des Papstes in Glaubens- oder Sittenfragen festgeschrieben. Weil der römische Oberhirte insbesondere in Sittenfragen eine, nun ja, ziemlich veraltete Ansicht vertritt, kann das mitunter für weniger sittenstrenge Beschäftigte kirchlicher Arbeitgeber sogar noch im 21. Jahrhundert fatale Folgen haben. Der Papst ist eben unfehlbar, Wiederverheiratung hin oder her.

Dasselbe Prinzip finden wir beim Deutschen Fußball-Bund, dessen Vorläufer in etwa zur Zeit des Ersten Vatikanischen Konzils ins Leben gerufen wurden. Die Anfänge des Fußballs in Deutschland datiert man auf das Jahr 1874. Wann genau man beim DFB die Unfehlbarkeit der Schiedsrichter entdeckte, ist leider nicht überliefert. Dennoch hat sie jetzt erneut mit geradezu päpstlicher Strenge zugeschlagen: Das Phantomtor von Hoffenheim wird zwar als objektiv falsch bezeichnet, es gilt aber trotzdem. Tatsachenentscheidungen des Schiedsrichters, während des Spiels gewissermaßen der Papst auf dem Fußballplatz, sind dem DFB nämlich heilig. Ungefähr so heilig wie dem Papst die Ehe seiner Schäfchen.

Diese extreme Form der Unfehlbarkeit findet sich heutzutage nur noch dort. Man stelle sich vor, eine Kassiererin im Supermarkt würde - objektiv feststellbar - einem Kunden 50 Euro zu wenig herausgeben. Es gibt bestimmt auf der ganzen Welt kein einziges Gericht, dass diesen Vermögensverlust nachträglich als Tatsachenentscheidung der Kassiererin billigen würde. In Russland zerrt man zwar selbst Tote vor Gericht, aber die russische Justiz beansprucht keineswegs Unfehlbarkeit, der längst beerdigte Angeklagte kann ja gegen das Urteil innerhalb von vier Wochen schriftlich Berufung einlegen. Wenigstens theoretisch. Papst und DFB lassen nicht einmal theoretisch Alternativen zu. Verheiratet ist eben verheiratet, Tor ist eben Tor. Komme was da wolle.

Kirche und Fußball haben ohnehin zahlreiche Gemeinsamkeiten: Gotteshäuser und Fußballarenen sind meist unbeheizt, Priester und Mannschaftskapitäne halten regelmäßig Pokale hoch und deren Anhänger bekriegen sich gerne mit ihren Pendants auf der Gegenseite (besonders intensiv in Nordirland sowie im Ruhrgebiet). Die Villen etlicher Spitzenspieler könnten auch vom Limburger Bischof geplant worden sein. Am Sonntag bimmeln in aller Herrgottsfrühe die Glocken, samstags lärmen zwischen 15.30 Uhr und 17.15 Uhr die Vuvuzelas. Klöster führten hierzulande erstmals den geregelten Braubetrieb ein, Fußballfans zählen nach wie vor zu den beständigsten Biertrinkern. Dem Argentinier Diego Maradona eilte 1986 die "Hand Gottes" zu Hilfe, Gottes Stellvertreter auf Erden stammt ebenfalls aus dem Pampastaat. Der Glaube an den Erlöser entzieht sich ebenso rationalen Kriterien wie der Glaube von Schalke 04 an die Deutsche Meisterschaft. Ein gewisser Beckenbauer nennt sich seit langem Kaiser Franz, Jorge Mario Bergoglio führt neuerdings den Aliasnamen Franziskus. Gerüchten zufolge sind beide katholisch. Alles bloß reiner Zufall? Natürlich nicht. Kein Wunder, wenn Papst und DFB Unfehlbarkeit für sich reklamieren.