Home | Archiv | Leserbriefe | Impressum



08. November 2013, von Michael Schöfer
Neoliberale Verblendung


Der Gralshüter des Neoliberalismus bei der Süddeutschen Zeitung, Marc Beise, ist sich sicher: "Ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn in der Größenordnung von 8,50 Euro, der schon mehr oder minder fix vereinbart ist, wird Jobs kosten, darin sind sich fast alle Experten einig." [1] Fast alle Experten? "Deutsche Wirtschaftswissenschaftler verkaufen es gern als ein ökonomisches Naturgesetz: Wenn der Staat Mindestlöhne vorschreibt, vernichtet er damit Arbeitsplätze. (…) Dabei ist die Wahrheit deutlich komplizierter. Der Zusammenhang ist längst nicht so klar, wie die Professoren suggerieren. So zeigt eine jetzt veröffentlichte Mammut-Untersuchung des Arbeitsmarkt-Forschungszentrums der US-Eliteuniversität Berkeley: Höhere Mindestlöhne haben in den Vereinigten Staaten in den vergangenen 16 Jahren keine Jobs vernichtet", berichtet das in puncto Staatsinterventionismus völlig unverdächtige Handelsblatt. [2]

Wahr ist, dass die international für ihren neoliberalen Starrsinn berüchtigten deutschen Ökonomen mehrheitlich gegen den gesetzlichen Mindestlohn sind. In anderen Ländern sieht man das jedoch wesentlich ideologiefreier, deshalb gibt es auch in "21 von 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union einen gesetzlich festgelegten Mindestlohn". [3] Sogar bei den Briten. Außerhalb der EU haben Deutschlands wichtigsten Konkurrenten auf dem Weltmarkt ebenfalls schon vor langer Zeit den gesetzlichen Mindestlohn eingeführt, die USA 1938 und Japan 1947. Und mit dem angestrebten Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro würde Deutschland nicht einmal an der Spitze liegen: "Von den insgesamt 21 EU-Staaten, die über einen gesetzlichen Mindestlohn verfügen, liegt dieser in fünf Staaten oberhalb von 8,50 Euro." [4] Gewiss, Mindestlöhne sind kein Allheilmittel gegen Armut, aber sie sind auf dem Arbeitsmarkt als Lohnuntergrenze dennoch hilfreich, weil sie Hungerlöhne verhindern und zumindest ein Stück weit Wettbewerbsgleichheit herstellen.

Dieselbe Ignoranz wie beim Mindestlohn offenbart das "Leitmedium der deutschen Journalisten" und die "mit Abstand die meistgelesene überregionale Qualitäts-Tageszeitung in Deutschland" (Eigenwerbung) in Bezug auf den geplanten Rechtsanspruch auf befristete Teilzeit. Union und SPD haben sich bei ihren Koalitionsverhandlungen auf einen gesetzlichen Rechtsanspruch auf befristete Teilzeitbeschäftigung verständigt. "'Wir wollen einen Rechtsanspruch auf Befristung der Teilzeit einführen für all diejenigen, die für ihre Kinder oder die Pflege von Angehörigen beruflich kürzer treten', sagten CDU-Sozialpolitikerin Annette Widmann-Mauz und SPD-Vize Manuela Schwesig. Dieser Anspruch soll im Teilzeit- und Befristungsgesetz verankert werden." [5] "Nach aller Erfahrung werden Firmen reagieren, indem sie weniger Teilzeit zulassen", meint dazu Marc Beise. [6]

Reflexhaft wird erst einmal zugebissen, aber manchmal reißt einem schon allein der Blick ins Gesetz die Scheuklappen herunter. Das Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG) und damit der Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit existiert bereits seit dem Jahr 2001. Recht auf Teilzeit hat man folglich ohnehin. Bislang gibt man allerdings den ungenutzten Stellenanteil dauerhaft auf und kann später nur mit Zustimmung des Arbeitgebers auf einen Vollzeitarbeitsplatz bzw. den ursprünglichen Arbeitszeitanteil zurückkehren. Beschäftigte sind zudem auf das Vorhandensein eines freien Stellenanteils angewiesen. Befristete Teilzeit ermöglichen bis dato bloß manche Tarifverträge, zum Beispiel die des Öffentlichen Dienstes, aber nicht das TzBfG. Genau das soll die von den Koalitionspartnern in spe geplante familienbedingte befristete Teilzeit ändern, hier hat man nämlich künftig nach Auslaufen der Befristung automatisch das gesetzlich verbriefte Recht, auf den vorherigen Arbeitszeitanteil zurückzukehren. Die Stelle bleibt in diesem Fall gewissermaßen im "Besitz" des Beschäftigten - selbst wenn für den freigegebenen Stellenanteil eine Ersatzkraft eingestellt wird. Obendrein hilft den Frauen die Rückkehr auf einen Vollzeitarbeitsplatz auch bei der Rente, denn so bleiben sie nicht dauerhaft in der Teilzeitfalle stecken, die sich negativ auf die Rentenansprüche auswirkt.

Was die Ausgestaltung der Teilzeit angeht, also die prozentuale Verringerung der Wochenarbeitszeit und die Lage (Tag, Uhrzeit) des reduzierten Arbeitszeitanteils, hat sich der Arbeitgeber übrigens in der Regel nach den Wünschen des Arbeitnehmers zu richten. "Der Arbeitgeber hat der Verringerung der Arbeitszeit zuzustimmen und ihre Verteilung entsprechend den Wünschen des Arbeitnehmers festzulegen, soweit betriebliche Gründe nicht entgegenstehen. Ein betrieblicher Grund liegt insbesondere vor, wenn die Verringerung der Arbeitszeit die Organisation, den Arbeitsablauf oder die Sicherheit im Betrieb wesentlich beeinträchtigt oder unverhältnismäßige Kosten verursacht", heißt es in § 8 Abs. 4 TzBfG. Der Arbeitgeber muss daher nachvollziehbare, gewichtige Gründe geltend machen, sofern er die vom Arbeitnehmer gewünschte Teilzeit verweigert. Diese Gründe müssen natürlich einer gerichtlichen Prüfung standhalten. So einfach, wie Marc Beise meint, können die Arbeitgeber das Teilzeitbegehren ihrer Beschäftigten gar nicht verweigern. Da hätte er sich mal besser über die Rechtslage und die einschlägige Rechtsprechung kundig machen sollen [7], schließlich kann man das vom Leiter der Wirtschaftsredaktion einer Qualitätszeitung erwarten. Oder nicht? Gendün Rinpoche, ein tibetischer Buddhist, hat einmal gesagt: "Im Geisteszustand der Verblendung befinden wir uns immer dann, wenn wir nicht in der Lage sind, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind." Treffender könnte man die neoliberale Verblendung von Marc Beise nicht beschreiben.

----------

[1] Süddeutsche vom 06.11.2013
[2] Handelsblatt vom 31.10.2011
[3] Wikipedia, Minestlohn, Überblick
[4] WSI vom 06.11.2013
[5] Süddeutsche vom 05.11.2013
[6] Süddeutsche vom 06.11.2013
[7] siehe etwa Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 13.11.2012, Az.: 9 AZR 259/11