Home | Archiv | Leserbriefe | Impressum



01. Dezember 2013, von Michael Schöfer
Alles Blödsinn!?


ZDF-Moderatorin Marietta Slomka brachte in ihrem Interview SPD-Parteichef Sigmar Gabriel gehörig auf die Palme. Angeblich existieren in Bezug auf die Mitgliederbefragung über den Koalitionsvertrag mit der Union verfassungsrechtliche Bedenken. "Das heißt doch, dass man, wenn man in eine Partei eintritt, ein besserer Wähler ist", folgerte Slomka. Und: "Ich dachte, dass in Deutschland alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht und nur das Wahlvolk entscheidet." [1] Außerdem gebe es in Deutschland kein imperatives Mandat.

Nun kann man über die Macht der Parteien durchaus unterschiedlicher Meinung sein, so hat etwa der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker von einer faktischen "Monopolherrschaft der Parteien bei der Auswahl der Abgeordneten" gesprochen [2] und sie bereits 1992 in einem Interview heftig kritisiert. Er hat ihnen darin "Machtversessenheit" und "Machtvergessenheit" attestiert: "Nach meiner Überzeugung ist unser Parteienstaat von beiden zugleich geprägt, nämlich machtversessen auf den Wahlsieg und machtvergessen bei der Wahrnehmung der inhaltlichen und konzeptionellen politischen Führungsaufgabe." Der Einfluss der Parteien gehe seiner Meinung nach über den politischen Willen der Verfassung weit hinaus, sie würden vielmehr die ganze Struktur unserer Gesellschaft durchziehen. Ihr Einfluss reiche "direkt oder indirekt in die Medien und bei der Richterwahl in die Justiz, aber auch in die Kultur und den Sport, in kirchliche Gremien und Universitäten" hinein. "Eine Entwicklung, die zu einem Missstand geworden ist", meinte von Weizsäcker. Allerdings: "Es gibt oder ich kenne jedenfalls keine Alternative zu politischen Parteien in demokratischen Massengesellschaften. Wir brauchen sie dringend, und dass sie starken politischen Einfluss haben, ist selbstverständlich." [3]

Artikel 21 Abs. 1 Grundgesetz (GG) sagt: "Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. (...) Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen." In § 18 Abs. 1 Bundeswahlgesetz (BWahlG) heißt es wiederum: "Wahlvorschläge können von Parteien und nach Maßgabe des § 20 von Wahlberechtigten eingereicht werden." § 20 BWahlG regelt die Kreiswahlvorschläge. Letztere beziehen sich also nur auf die Erststimme in den jeweiligen Wahlkreisen. Die für die Sitzverteilung im Bundestag ausschlaggebende Zweitstimme wird aber über Landeslisten vergeben. Diese können jedoch gemäß § 27 BWahlG nur von Parteien eingereicht werden. Mit anderen Worten: Die Bürgerinnen und Bürger wählen bei der Bundestagswahl - abgesehen von parteilosen Einzelbewerbern in den Wahlkreisen - im Wesentlichen nur Kandidaten der Parteien. Bei der Bundestagswahl 2013 fiel übrigens kein einziges Direktmandat an einen Parteilosen. [4] Wie es überhaupt noch nie ein Parteiloser in den Bundestag schaffte, ohne von einer Partei aufgestellt worden zu sein. Ein Mangel am System? Eher ein Mangel an entsprechendem Wählerwillen.

Wenn nun Parteien nach der Wahl koalieren wollen, um eine Bundesregierung zu bilden, und deshalb einen Koalitionsvertrag aushandeln, sind verfassungsrechtliche Bedenken m.E. an den Haaren herbeigezogen. Den Koalitionsvertrag schließen Parteien ab, keine parteilosen Abgeordneten (die es im Bundestag ohnehin nicht gibt). Sollen die 631 Bundestagsabgeordneten ohne jede Rückkopplung an ihre Parteien und deren Programme die Regierungsbildung unter sich aushandeln? Diese Vorstellung ist naiv und verfassungsrechtlich noch viel bedenklicher. Insofern ist gegen die innerparteiliche Legitimation des Koalitionsvertrags mittels Mitgliederbefragung nichts einzuwenden. Im Gegenteil, der Hinweis von Sigmar Gabriel, dass bei der Union noch viel weniger Mitglieder über die künftige Politik befinden (CDU: 25 Mitglieder des kleinen Parteitags, CSU: 50 Mitglieder des Parteivorstands plus 56 CSU-Bundestagsabgeordnete), war goldrichtig. Bei der SPD sind immerhin rund 470.000 Genossinnen und Genossen zum Mitgliedervotum aufgerufen.

"Auch wenn es weder im Grundgesetz noch im Parteiengesetz oder im Abgeordnetengesetz eine Bestimmung gibt, die Mitgliederbefragungen explizit verbietet, halte ich sie in diesem Fall für verfassungsrechtlich nicht legitim", sagt der Leipziger Staatsrechtlers Christoph Degenhart. "Auch wenn natürlich das Ergebnis der Mitgliederbefragung für die Abgeordneten bei der Stimmabgabe nicht formell verbindlich ist, kommt die Befragung aus meiner Sicht jenen Aufträgen und Weisungen nahe, die nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ausgeschlossen sind. (…) "Die Vorstellung, Abgeordnete müssten sich vor einer Abstimmung die Zustimmung der Basis holen, ist dem Grundgesetz fremd." [5] "Der Staatsrechtler Christian Pestalozza von der Freien Universität Berlin hält die Koalitionsvereinbarung für verfassungsrechtlich bedenklich. Es sei fragwürdig, dass Koalitionsvereinbarungen 'überhaupt außerhalb des Parlaments von den politischen Parteien getroffen werden.' (…) 'Im Grundgesetz steht, dass die Kanzlerin die Richtlinien der Politik bestimme und nicht die Parteien vorher durch eine Koalitionsvereinbarung. Die Unabhängigkeit der künftigen Bundesregierung wird also beeinträchtigt, wenn sie vorher verbindlich auf Dinge festgelegt wird.'" [6]

Nimmt man diese Einwände ernst, dürfte es eigentlich überhaupt keine Koalitionsverträge geben. Rechtlich betrachtet sind solche Abkommen ohnehin lediglich eine Absichtserklärung der vertragschließenden Parteien und für die Abgeordneten vollkommen unverbindlich. Über den Koalitionsvertrag selbst wird im Bundestag gar nicht abgestimmt. Die Abgeordneten befinden nämlich über jedes einzelne Vorhaben separat in einem eigenen Gesetzentwurf, und hierbei sind sie - zumindest theoretisch - an keinerlei Weisungen gebunden. Niemand kann sie zwingen, sich bei ihrem Votum an den Koalitionsvertrag zu halten. Im Grunde riskieren sie bloß, bei der nächsten Wahl nicht mehr aufgestellt zu werden. Das wirkt zwar disziplinierend, ist aber juristisch gesehen kein Zwangsmittel. Überdies gilt nach wie vor das Strucksche Gesetz, wonach kein Gesetz den Bundestag so verlässt, wie es hineingekommen ist. Koalitionsverträge sind nicht einklagbar, sie kommen daher dem imperativen Mandat auch nicht nahe. Der Bundeskanzler besitzt in der Tat die Richtlinienkompetenz, er kann freilich nur die Richtung vorgeben, die die Regierungspolitik einschlagen soll. Gesetze dekretieren darf er nicht, denn die Gesetzgebungskompetenz liegt allein beim Gesetzgeber (auf Bundesebene sind das Bundestag und Bundesrat). Christian Pestalozza vermengt hier in seiner Argumentation unzulässigerweise Exekutive und Legislative.

Sehen wir es einmal andersherum: Die Bürgerinnen und Bürger wählen Parteien nach ihren Parteiprogrammen aus. Wären die Abgeordneten hinterher an gar nichts mehr gebunden, nicht einmal an ihre Wahlversprechen, verkäme die Bundestagswahl zu einem inhaltsleeren Ritual. Genaugenommen könnten dann Abgeordnete einer Partei, die sich vor der Wahl für Steuersenkungen stark gemacht hat, nach der Wahl für Steuererhöhungen plädieren. Das dürften selbst die o.g. Verfassungsrechtler ablehnen, denn dann würde sich die Macht, die ja laut Grundgesetz vom Volke ausgeht, im Parlament womöglich gar nicht mehr widerspiegeln. Nehmen wir an, Sie wählen CDU. Und nach der Wahl realisiert Angela Merkel das Parteiprogramm der Linken. Da würden Sie sich bestimmt freuen. Die repräsentative Demokratie setzt folglich eine gewisse Verbindlichkeit von Wahlprogrammen voraus, der Parlamentarismus darf schließlich nicht in totale Beliebigkeit ausarten. Wahlprogramme sind zwar ebenso wenig einklagbar wie Koalitionsverträge, entfalten aber die gleiche moralische Bindungswirkung. Parteien, die beharrlich gegen ihre Wahlversprechen verstoßen, werden beim nächsten Mal vom Wähler abgestraft. Koalitionsverträge sind nur Derivate der Wahlprogramme der Regierungsparteien. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Absolute Sicherheit brächte nur die direkte Demokratie, wie sie etwa in der Schweiz praktiziert wird. Dort kann das Volk unmittelbar über Gesetze abstimmen und sogar welche selbst initiieren. Ich weiß nicht, was Marietta Slomka von der direkten Demokratie hält, aber das Mitgliedervotum der SPD geht wenigstens ein bisschen in diese Richtung. Mehr Mitbestimmung ist allemal besser als weniger Mitbestimmung. Insofern hat sich Slomka die falsche Partei vorgenommen, mit der Kritik der Verfassungsrechtler hätte sie in erster Linie die Union konfrontieren müssen. Oder ist in ihren Augen das Votum eines kleinen Parteitags oder eines Parteivorstands unproblematischer? Schlüssig war Slomkas Argumentation jedenfalls nicht. Als Parteivorsitzender darf man sich über offenbar unvorbereitete und undurchdacht fragende Journalisten schon einmal aufregen. Das ZDF ist sowieso eher für Kurioses bekannt: Das Interview, das Thomas Walde mit Katja Kipping führte [YouTube-Video], ist an Polemik und Aggressivität kaum zu überbieten. Im Gegensatz dazu wird Angela Merkel erkennbar mit Samthandschuhen angefasst. Bettina Schausten zahlt angeblich auch schon mal 150 Euro für die Übernachtung bei ihren Freunden, wenn sie mit dieser unglaubwürdigen Behauptung Bundespräsidenten vorführen kann [YouTube-Video]. Peinlich, peinlich. Anstatt nach der Zulässigkeit des SPD-Mitgliedervotums zu fragen, hätte Marietta Slomka besser die kritische Auseinandersetzung mit den Inhalten des Koalitionsvertrags suchen sollen, da gibt es wirklich genug Gesprächsstoff. Stattdessen konzentrierte sie sich auf Randthemen. Kein Vorbild für journalistische Professionalität.

----------

[1] Die Welt-Online vom 01.12.2013
[2] Spiegel-Online vom 28.08.2001
[3] Die Zeit vom 19.06.1992
[4] Bundeswahlleiter, Gewählte in Wahlkreisen
[5] duesselportal.de vom 28.11.2013
[6] duesselportal.de vom 29.11.2013


Nachtrag (07.12.2013):
Das Bundesverfassungsgericht hat einen Eilantrag gegen den Mitgliederentscheid über den Koalitionsvertrag zurückgewiesen. Zunächst aus formalen Gründen: Eine Verfassungsbeschwerde könne nur gegen öffentliche Gewalt eingereicht werden. "Mit der Durchführung einer Abstimmung über einen Koalitionsvertrag unter ihren Mitgliedern übt die SPD keine öffentliche Gewalt aus. Öffentliche Gewalt ist vornehmlich der Staat in seiner Einheit, repräsentiert durch irgendein Organ. Parteien sind nicht Teil des Staates. Sie wirken in den Bereich der Staatlichkeit lediglich hinein, ohne ihm anzugehören", sagte das Gericht.

Aber auch aus inhaltlichen Gründen: Koalitionsvereinbarungen zwischen Parteien wirken nicht unmittelbar in die staatliche Sphäre hinein. Sie "bedürfen vielmehr weiterer und fortlaufender Umsetzung durch die regelmäßig in Fraktionen zusammengeschlossenen Abgeordneten des Deutschen Bundestages. (…) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen (...). Die politische Einbindung des Abgeordneten in Partei und Fraktion ist verfassungsrechtlich erlaubt und gewollt. Das Grundgesetz weist den Parteien eine besondere Rolle im Prozess der politischen Willensbildung zu (...), weil ohne die Formung des politischen Prozesses durch geeignete freie Organisationen eine stabile Demokratie in großen Gemeinschaften nicht gelingen kann. Die von Abgeordneten - in Ausübung des freien Mandats - gebildeten Fraktionen sind notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens. Im organisatorischen Zusammenschluss geht die Freiheit und Gleichheit des Abgeordneten nicht verloren. Sie bleibt innerhalb der Fraktion bei Abstimmungen und bei einzelnen Abweichungen von der Fraktionsdisziplin erhalten und setzt sich im Anspruch der Fraktion auf proportionale Beteiligung an der parlamentarischen Willensbildung fort." [7]

Die Zurückweisung der Verfassungsbeschwerde ist eine schallende Ohrfeige für Marietta Slomka. Hätte sie ihrer journalistischen Sorgfaltspflicht Genüge getan und sich besser auf das Interview vorbereitet, wäre ihr schnell klar geworden, dass Sigmar Gabriel durchaus recht hatte. Mit ihrem Gelaber über das "imperative Mandat" und der angeblichen Besserstellung der SPD-Mitglieder lag sie nämlich total daneben. Zweifel an der Rechtmäßigkeit von Koalitionsvereinbarungen sind mit dem Beschluss des höchsten deutschen Gerichts wohl endgültig vom Tisch.

[7] Bundesverfassungsgericht, Pressemitteilung Nr. 73/2013 vom 6. Dezember 2013