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07. Dezember 2013, von Michael Schöfer
Die Welt ist ärmer geworden


Nelson Mandela ist tot, die Welt ist spürbar ärmer geworden. Und wir werden ihn, das letzte große Vorbild der Weltgemeinschaft, bestimmt vermissen. Ein erfülltes Leben ist vergangen, aber Mandelas Handeln zeigt sicherlich weit über seinen Tod hinaus Wirkung. Noch lange wird man den Befreier Südafrikas in einem Atemzug mit dem Befreier Indiens, Mahatma Gandhi, nennen. Seine Standhaftigkeit, sein unbeirrter Glaube an die Gerechtigkeit, seine persönliche Integrität und seine menschliche Größe lassen ihn als Titan erscheinen, dabei war er bloß ein Mensch. Andere an seiner Stelle hätten sich auf goldene Throne gesetzt und wären geistig in himmlische Sphären entrückt. Madiba, wie er in Südafrika liebevoll genannt wurde, blieb bescheiden und behielt Bodenhaftung.

Gerade im Kontrast zu anderen afrikanischen Politikern wird deutlich, was er geleistet hat. 27 Jahre lang war Mandela als politischer Gefangener inhaftiert, dennoch brachte er der vom Apartheid-System zerrissenen Nation die Versöhnung. "Gerechtigkeit, nicht Rache", lautete sein Motto. Heute ist Südafrika zwar immer noch ein Land voller Probleme, aber wenigstens blieb den Menschen am Kap der Guten Hoffnung der alles zerstörende Bürgerkrieg erspart. Wie anders es hätte verlaufen können, zeigt das Beispiel Simbabwe. Die Schreckensherrschaft von Robert Mugabe brachte dem ehemaligen Rhodesien viel Leid und ökonomischen Niedergang. Mugabe, einst als Befreier bejubelt, erwies sich als skrupelloser Despot.

Ein bisschen lustig ist es schon, wer heute alles Trauer zeigt. Ich kann mich noch gut erinnern, als man Anfang der achtziger Jahre im kleinen Gemüseladen um die Ecke schief angesehen wurde, weil man Früchte aus Südafrika konsequent verschmähte. "Woher?" "Aus Südafrika." "Nein, danke!" Ein kleiner Beitrag im Kampf gegen den Rassismus. Nun vermissen ihn alle, sogar die Amerikaner und die Briten. Von Ronald Reagan 1988 als Terrorist auf die Watch List gesetzt, wurde Nelson Mandela ausgerechnet von George W. Bush rehabilitiert. Ausgerechnet von Busch! 2008 - 14 Jahre nachdem Mandela Präsident von Südafrika wurde. Die frühere britische Premierministerin Maggie Thatcher, eine Freundin Augusto Pinochets, verunglimpfte ihn ebenfalls als Terrorist und seine Partei, den ANC, als Terrororganisation. "Abgeordnete [der konservativen Tories] nennen ihn in den Achtzigern 'schwarzen Terroristen' oder fordern schlicht, ihn erschießen zu lassen." [1] Die Queen sei "tieftraurig" über Mandelas Tod, heißt es jetzt. Und Premierminister David Cameron beklagt pathetisch: "Ein großes Licht in der Welt ist erloschen. Nelson Mandela war ein Held unserer Zeit." [2] Auch hierzulande galten einflussreiche Politiker, etwa Franz Josef Strauß (CSU), als Freunde des Apartheid-Regimes. [3] Von der Kumpanei der Wirtschaft ganz zu schweigen.

Wie immer bei solchen Anlässen blickt man gerne zurück und ehrt den Verstorbenen. Doch diejenigen, die wegen Mandelas Tod öffentlichkeitswirksam Tränen vergießen, missachten zugleich sein Vermächtnis. Beileidsbekundungen gehen einem leicht über die Lippen, aber in Wahrheit geht es um etwas ganz anderes. Es ist pure Heuchelei, Mandela über den grünen Klee zu loben, während man gleichzeitig der Fremdenfeindlichkeit Vorschub leistet. Derselbe David Cameron, der ihn ehrfurchtsvoll als "großes Licht" bezeichnet, erweist sich nämlich selbst als ziemlich kleines Licht, weil er beispielsweise die Freizügigkeit in Europa einschränken will. Obwohl im Mittelmeer zuhauf Menschen ertrinken, liegt das Hauptaugenmerk der europäischen Politiker nach wie vor auf der Abwehr der Flüchtlinge. "Grenzen dicht" anstatt "Bekämpfung der Fluchtursachen". "Deutschland nimmt weitere 5.000 Syrer auf", verkünden die Innenminister. Doch von den 5.000, die man bereits im September aufzunehmen versprach, hat man bislang bloß 1.700 hereingelassen. Angesichts von mehr als drei Millionen Syrern, die sich auf der Flucht befinden, ist das erbärmlich. Viele, die in diesen Tagen mit verklärtem Blick von Nelson Mandela sprechen, müssten sich in Wahrheit schämen.

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[1] Süddeutsche vom 06.12.2013
[2] Spiegel-Online vom 06.12.2013
[3] Der Spiegel 3/1984 vom 16.01.1984