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15. Dezember 2013, von Michael Schöfer
Scheinbare "Mehrbelastung"


Humorvolle Bemerkungen peppen jede Rede auf und man gewinnt auf diese Weise selbst bei trockenen Themen die Aufmerksamkeit der Zuhörer. Scheinbar ungewollt Lacher herauszukitzeln gehört zweifellos zur hohen Kunst der Rhetorik. Wenn man etwa bei der Verabschiedung eines beliebten Vorgesetzten die Worte "Es hätte wesentlich schlimmer kommen können" wählt, rätselt jeder, ob es sich dabei um eine bewusst doppeldeutige Formulierung oder nur um eine ungeschickte Wortwahl handelt. "Es hätte wesentlich schlimmer kommen können" sagt nämlich im Grunde, dass es schlimm war. Bloß nicht so schlimm wie ursprünglich befürchtet. Lacher oder zumindest ein bedeutungsvolles Raunen sind dem Redner gewiss. Geht indes die Pointe in die Hose, ist es für den Vorgesetzten wenig schmeichelhaft.

Auch im Journalismus gibt es doppeldeutige Formulierungen, aber hier geht es oft nicht um Lacher, sondern um fahrlässige oder bewusste Desinformation. Wenn eine Zeitung zum Beispiel mit der Schlagzeile "Weniger Arbeitslose als befürchtet" aufmacht, will sie den zugrundeliegenden negativen Sachverhalt, das Ansteigen der Arbeitslosenzahl, ins Positive verdrehen. Weniger Arbeitslose als befürchtet? Na bitte, die Politik der Regierung zeigt endlich Wirkung. Dass die Lage in Wahrheit schlechter geworden ist, fällt vielen Leser dann gar nicht mehr auf. Der Eindruck, der hängenbleiben soll, ist: Es wird besser - obgleich objektiv das Gegenteil zutrifft. Anders ausgedrückt: Wenn der eigene Verein beim Tabellenführer antritt und man eine 5:0-Niederlage erwartet, bleibt eine 2:0-Niederlage trotzdem eine Niederlage. Niederlagen in Siege umzudeuten ist allerdings weit verbreitet.

Unter diese Rubrik fällt auch das Geschwafel vom Primärüberschuss: "Für die Regierung in Athen läuft es in diesem Jahr wieder deutlich besser: Griechenland hat in den ersten elf Monaten des Jahres nach Angaben des Finanzministeriums mehr eingenommen als ausgegeben. Das Land habe einen sogenannten Primärüberschuss von 2,7 Milliarden Euro erwirtschaftet." [1] Das Dumme dabei ist: Der Primärüberschuss lässt die horrenden Zinszahlungen für die Staatsschuld außer Acht, der Schuldenberg wächst also trotz allem weiter an. Wenn ein überschuldeter Hausbesitzer sagen würde "Von der Zinsbelastung abgesehen geht es mir gut", wäre das ein Indiz für fortschreitenden Realitätsverlust.

Die Süddeutsche, die ihren hehren Anspruch, Qualitätsjournalismus zu bieten, gelegentlich missachtet [2], ist diesbezüglich erneut aufgefallen: "So viel kostet die große Koalition", schreibt sie im Wirtschaftsteil. [3] Sie vergleicht den Koalitionsvertrag mit den Wahlversprechen der Union und kommt zu dem Ergebnis, dass es teuer wird. "Wer als Single beispielsweise 4000 Euro brutto im Monat verdient, muss pro Jahr genau 333 Euro mehr zahlen, als es CDU und CSU vor der Wahl versprochen hatten. Allein die vereinbarten Änderungen bei den Sozialabgaben fallen dabei mit 216 Euro ins Gewicht. Nach den Planungen der künftigen Koalitionäre soll nämlich der Rentenbeitrag nicht wie derzeit noch gesetzlich vorgesehen von 18,9 auf 18,3 Prozent des Bruttolohns sinken, sondern unverändert bleiben. Zudem wird der Beitrag zur Pflegeversicherung Mitte 2014 oder Anfang 2015 von 2,05 auf 2,35 (für Kinderlose von 2,3 auf 2,6) Prozent angehoben." Zu den 216 Euro kämen noch 117 hinzu, weil die Regierungskoalition die "kalte Progression" entgegen den Zusagen der Union unangetastet lässt.

Koalitionsverträge sind Kompromisse zwischen unterschiedlichen Wahlprogrammen und weichen daher zwangsläufig von den Wahlversprechen einer Partei ab. Das weiß man normalerweise auch ohne Journalistenausbildung. Die Milchmädchenrechnung der SZ soll beim Leser dennoch den Eindruck hinterlassen, dass er ordentlich geschröpft wird. Bleiben wir beim o.g. Single. Anders als die Süddeutsche suggeriert zahlt er schließlich durch die unterbliebene Beitragssenkung bei der gesetzlichen Rentenversicherung nicht mehr als vorher. Das "Regierungsprogramm 2013 - 2017" der Union [4] sah sogar eine "moderate Erhöhung des Beitrags zur Pflegeversicherung" vor (Seite 49). Der Artikel ist also obendrein schlecht recherchiert, weil er etwas unterstellt (Beitragsstabilität in der Pflegeversicherung), das die Union laut Wahlprogramm gar nicht anstrebte. Die Verbesserungen, die die Union in der Rentenversicherung durchsetzen wollte, seien aufgrund der "guten finanziellen Situation der Rentenversicherung" und mit den "vorhandenen Mitteln aus dem Zuschuss des Bundes" finanzierbar, hieß es dort (Seite 45). Implizit bedeutete das zwar in puncto Rentenbeitragssatz bei der gesetzlichen Regelung zu bleiben, wonach es am 1. Januar 2014 zu einer Beitragssenkung gekommen wäre, aber die zusätzlichen Wünsche der SPD (Stichwort: abschlagsfreie Rente mit 63 für besonders langjährig Versicherte) haben das verhindert. Diese Absicht stand wiederum für alle nachlesbar in deren "Regierungsprogramm 2013 - 2017" [5] (Seite 79). Und weiter: "Die Finanzierung des abschlagsfreien Rentenzugangs nach 45 Versicherungsjahren, der verbesserten Erwerbsminderungsrente und der Stabilisierung des Rentenniveaus werden wir durch einen höheren Rentenversicherungsbeitrag und den Aufbau einer höheren Nachhaltigkeitsreserve sicherstellen." (Seite 81)

Wenn die SZ schon vergleicht, sollte sie genau hinsehen und die Wahlprogramme aller an der künftigen Regierung beteiligten Parteien zum Maßstab machen. Zwischen der impliziten Rentenbeitragssenkung der Union und der angekündigten Rentenbeitragserhöhung der SPD ist die Stabilisierung auf dem gegenwärtigen Niveau ein vertretbarer Kompromiss. Allein das Wahlprogramm der Union herauszugreifen und anschließend zu behaupten "Die große Koalition wird teuer", ist in meinen Augen unseriös. Diese Vorgehensweise ist auch unsinnig, denn so hätte man bloß bei einer absoluten Mehrheit der Union verfahren dürfen. Aber die Frage nach dem "Was-wäre-wenn" ist müßig. Oder um Peer Steinbrück zu zitieren: Hätte, hätte, Fahrradkette. [YouTube-Video]

Die Süddeutsche hätte nicht Erwartungen zum Maßstab machen sollen, sondern lediglich reale Erhöhungen. Und da bleibt gegenüber dem aktuellen Zustand nicht allzu viel übrig. "Nicht allzu viel" gibt aber zugegebenermaßen keine reißerische Schlagzeile her. Wie unseriös der Ansatz der SZ ist, zeigt der Wechsel des Ausgangspunkts. Nimmt man das Wahlprogramm der SPD als Maßstab, hätte die selektive Betrachtung zur Schlagzeile "Die große Koalition bringt Entlastung" führen müssen, weil die SPD in der Rentenversicherung eine Beitragsanhebung und außerdem noch Steuererhöhungen durchsetzen wollte. Das wäre freilich genauso falsch gewesen, denn ausbleibende Erhöhungen sind schließlich keine reale Entlastung. Im Übrigen sind Wahlprogramme und Koalitionsverträge immer ein Geben und Nehmen. Das heißt, erst aus der Gesamtbetrachtung ergibt sich ein korrektes Bild. Es entstehen bekanntlich nicht nur Kosten, es werden ja auch Verbesserungen durchgesetzt. Sich bei der Betrachtung allein auf die Kosten zu fixieren, ist eine beschränkte Sichtweise.

Das heißt jetzt nicht, dass man den Koalitionsvertrag als gelungen bezeichnen kann. Ein großer Wurf sieht in der Tat anders aus. Allerdings muss man ihn stets vor dem Hintergrund der Absichten sämtlicher Regierungsparteien bewerten. Und die waren in etlichen Punkten höchst unterschiedlich. Doch selbst wenn man sich auf die selektive Sichtweise der SZ einließe: Die scheinbare "Mehrbelastung" in Höhe von 27,75 Euro dürfte bei einem Bruttoeinkommen von 4.000 Euro (netto sind das 2.330 Euro) zu verkraften sein.

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[1] Spiegel-Online vom 12.12.2013
[2] siehe Zeitungslektüre ist entspannend... vom 06.08.2013 oder Das ist Desinformation, kein Qualitätsjournalismus vom 11.10.2013
[3] Süddeutsche vom 13.12.2013
[4] CDU, PDF-Datei mit 937 kb
[5] SPD, PDF-Datei mit 1 MB