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22. Dezember 2013, von Michael Schöfer
Deutschland geht es gut

Nach Clausewitz ist Krieg "eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln". Im Umkehrschluss könnte man behaupten, Wirtschaftspolitik sei lediglich die Fortsetzung des Krieges mit ökonomischen Mitteln, denn wie im Krieg kämpft auch dort jeder nur ums eigene Überleben. Oft genug ohne Rücksicht auf Verluste. Propaganda ist hierbei ein unverzichtbarer Bestandteil - gilt es doch, die vermeintlich dumme Masse in die gewünschte Richtung zu lenken. Zogen einst Völker unter dem Beistand Gottes ins Feld, treten heute Ökonomieprofessoren wie Hans-Werner Sinn oder Organisationen wie die "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" und die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) an dessen Stelle. Sie trichtern uns modernisierte Glaubenssätze ein. Gott lockt in den säkularen Industriestaaten keinen mehr hinter dem Ofen hervor, schon gar keine Kämpfer, dafür braucht man subtilere Mittel. Alternativlose Sachzwänge beispielsweise. Oder die unumstößlichen Gesetze des Marktes.

"Deutschland geht es gut", beteuert Angela Merkel immer wieder. Eine Aussage, die ihr zuletzt abermals die Kanzlerschaft bescherte. Zugegeben, Deutschland geht es volkswirtschaftlich betrachtet tatsächlich gut, dennoch leben viele Deutsche unter prekären Lebensverhältnissen. Diesen Widerspruch übertüncht die Propaganda. Und das durchaus geschickt, wie man neidvoll anerkennen muss.

19,6 Prozent der Bevölkerung Deutschlands waren 2012 von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen, stellte das Statistische Bundesamt kürzlich fest. Jeder Fünfte in dieser ach so reichen Republik. [1] Das sind rund 16 Millionen Menschen. Wenig verwunderlich, wenn man weiß, dass die Reallöhne vom dritten Quartal 2012 bis zum dritten Quartal 2013 um durchschnittlich 0,3 Prozent gesunken sind. [2] Zwar lagen die Tarifverdienste im 3. Quartal 2013 2,5 Prozent höher als im Vorjahresquartal und bewegten sich damit über der Inflationsrate [3], aber das gilt eben bloß für die von Tarifverträgen erfassten Arbeitnehmer. 41 Prozent unterlagen 2010 überhaupt keiner Tarifbindung mehr. [4] Von Letzteren lebt der Niedriglohnsektor. Und der ist gewaltig, jeder vierte Beschäftigte arbeitet inzwischen für einen Niedriglohn. "Einer neuen Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zufolge verdiente im Jahr 2010 knapp ein Viertel aller Beschäftigten weniger als 9,54 Euro brutto pro Stunde, das sind mehr als sieben Millionen Menschen. Im Vergleich mit 16 weiteren europäischen Ländern liegt Deutschland damit hinter Litauen auf dem zweiten Platz. In Dänemark, Finnland oder Belgien liegt der Anteil der Niedriglohnbezieher nur bei rund zehn Prozent." [5]

Die Spaltung in Deutschland vertieft sich: Die Armen werden ärmer, die Reichen reicher. Die Kluft zwischen den von Tarifverträgen erfassten Beschäftigten und den nicht von Tarifverträgen erfassten wird immer größer. Außerdem driften die Regionen auseinander. Das reiche Baden-Württemberg kann zulegen, das arme Mecklenburg-Vorpommern fällt hingegen zurück. Genau aus diesem Grund ist der gesetzliche Mindestlohn so wichtig.

Folgt man der Argumentation der Arbeitgeber, steht uns wie gehabt der ökonomische Kollaps bevor. Der gesetzliche Mindestlohn würde Arbeitsplätze kosten, sagen sie. Eventuell sogar Firmenpleiten nach sich ziehen. Nehmen wir einmal das Beispiel Fleischindustrie: Beim Wursthersteller "Halberstädter" in Sachsen-Anhalt werden für die beiden unteren von insgesamt vier Lohngruppen 7,19 Euro und 8,18 Euro gezahlt. Ein gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro würde diese Tarife anheben. Doch das hätte, beklagen die Arbeitgeber, zwangsläufig Auswirkungen auf die anderen Lohngruppen. "Facharbeiter werden sich nicht damit zufriedengeben, künftig nur noch genauso viel wie Angelernte zu verdienen." Für den Wursthersteller "Halberstädter" bedeutet das: "Auch in den beiden oberen Lohngruppen von 8,55 und 9,27 Euro dürften die Löhne ungefähr so steigen, dass die alten Abstände zwischen den Gruppen bleiben." [6] Schockschwerenot. Das muss man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen: 8,55 Euro bedeuten bei einer 40-Stunden-Woche ein Monatsgehalt in Höhe von 1.487 Euro, bei 9,27 Euro sind es 1.612 Euro. Brutto, wohlgemerkt. Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen: Die Arbeitgeber sprechen hier von einem Facharbeitergehalt. "Facharbeitermangel trifft Niedriglohnsektor", darf man hier süffisant anmerken.

Was sagt die Propaganda? Ifo-Chef Hans-Werner Sinn prognostiziert: "Die Konjunkturaussichten für das nächste Jahr sind prächtig." [7] Die Inlandsnachfrage werde die Wirtschaft ankurbeln. Nun, mit Vorhersagen im Allgemeinen und mit den Prognosen von Hans-Werner Sinn im Besonderen ist das so eine Sache. "Die Gefahr einer schweren Rezession in Deutschland hat nach Einschätzung von Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn abgenommen. 'Das Risiko hat sich verringert'", verkündete Sinn im November 2008. [8] Bloß zur Einordnung des Gesagten: Knapp zwei Monate zuvor hatte die Investmentbank Lehman Brothers Konkurs angemeldet. Im Dezember, als die Krise selbst für Ignoranten nicht mehr zu übersehen war, korrigierte er seine Prognose: 2009 werde die Wirtschaft um 2,2 Prozent sinken. [9] Hoppala. Aber auch damit lag "Deutschlands klügster Professor" (Bild) meilenweit daneben, denn bekanntlich ging das Bruttoinlandsprodukt 2009 real um 5,1 Prozent zurück - der schwerste Einbruch seit Bestehen der Bundesrepublik. [10] Für 2010 erwartete Sinn dann ein Wachstum von 1,7 Prozent [11], obgleich die Wirtschaft um satte 4,0 Prozent zulegte. Nacheinander mit der Vorhersage um insgesamt 5,2 Prozent danebenzuliegen (-2,2 % anstatt -5,1%, +1,7 % anstatt +4,0 %), ist eine beachtliche Leistung - insbesondere für den klügsten Professor Deutschlands.

Meiner Auffassung nach mangelt es Hans-Werner Sinn an Substanz. Genauso wie der GfK. "Die Kauflaune der deutschen Verbraucher ist so gut wie seit fünf Jahren nicht mehr", meldeten die Konsumforscher im Oktober 2012. [12] "Die deutschen Einzelhändler erwarten wegen steigender Löhne und niedriger Arbeitslosigkeit einen Rekordumsatz im Weihnachtsgeschäft", meldeten die Gazetten folgerichtig. [13] Die Ernüchterung folgte auf dem Fuße: Der Umsatz des Einzelhandels ist im Dezember 2012 gegenüber dem Vorjahresmonat real um 3 Prozent gesunken. [14] Kalenderbereinigt (der Dezember 2012 hatte mit 24 Verkaufstagen zwei Verkaufstage weniger als der Dezember 2011) fällt das Minus zwar etwas geringer aus, aber zwischen dem vorhergesagten "Rekord-Weihnachten" und der Realität lagen nichtsdestotrotz Welten.

Dessen ungeachtet steht in diesem Jahr das gleiche Stück wie im vergangenen Jahr auf dem Spielplan: "Deutschland im Kaufrausch", interpretiert Spiegel-Online den von der GfK gemessenen Anstieg des Konsumklimaindex. Die Sparneigung sinke wegen den niedrigen Zinsen, die Konsumstimmung sei so gut wie seit sechs Jahren nicht mehr. [15] Die Kauflaune lässt die Kassen klingeln, wird suggeriert. Und wie 2012 erwartet der Einzelhandel auch 2013 Rekordumsätze im Weihnachtsgeschäft. [16] Da fragt man sich, woher angesichts sinkender Reallöhne (siehe oben) die dafür notwendige Kaufkraft kommen soll. Wahrscheinlich folgt Anfang 2014, wenn das Statistische Bundesamt seine Daten vorlegt, abermals die Ernüchterung. Fakten können ja zuweilen grausam sein. Gut möglich, dass der Einzelhandel in diesem Jahr erneut vergeblich auf Rekordumsätze hofft.

Dieses Konglomerat aus regelmäßig danebenliegenden Ökonomieprofessoren, die obendrein die falschen Rezepte empfehlen, und willigen Journalisten, die jede Verlautbarung der GfK unkritisch weitergeben, ist für eine Stimmung verantwortlich, in der die Realität selektiv ausgeblendet wird. Deutschland geht es gut. Ja, ja... Erinnern Sie sich noch an den Terz, der um die Steuerpläne der Grünen gemacht wurde? Es drohte nichts weniger als der Untergang Deutschlands (das Abendland konnte man nicht mehr nehmen, weil es bereits während der Eurokrise teilweise abgesoffen ist). Zeter und Mordio schrie die Presse. "Das Steuerprogramm der Grünen kann einen das Fürchten lehren. Über einzelne Elemente könnte man reden, in der Summe ist es ein Frontalangriff gegen die bürgerliche Mitte der Gesellschaft", behauptete etwa Marc Beise, der Leiter der SZ-Wirtschaftsredaktion. [17] Und nun? Deutschland sei ein "Reichenparadies", heißt es jetzt. "In keinem großen Industriestaat werden Vermögen so gering besteuert wie hierzulande." [18] Erst vor der Wahl Stimmung gegen die Steuerpläne der Grünen machen, aber nach der Wahl darüber klagen, dass Reiche in puncto Vermögensbesteuerung bei uns so gut wegkommen wie in keinem anderen großen Industriestaat. Mit Verlaub, das ist doch schizophren.


[Quelle: Bundesministerium für Finanzen, Monatsbericht Dezember 2013,
Besteuerung von Vermögen – eine finanzwissenschaftliche Analyse]


"Unser Gemeinwesen ist auf verlässliche Steuereinnahmen angewiesen. Der dafür erforderliche gesellschaftliche Konsens beruht auf einem gerechten Steuerrecht, das die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit in den Mittelpunkt stellt", steht im Koalitionsvertrag von Union und SPD (Seite 89). [19] Das Wort "Vermögensteuer" kommt dort gar nicht vor. Steuererhöhungen sind ebenso wenig vorgesehen. Von den blumigen Worten über ein gerechtes Steuerrecht kann sich aber niemand etwas kaufen. Am wenigsten die - siehe oben - rund 16 Mio. Menschen, die von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen sind. Wirtschaftspolitik ist lediglich die Fortsetzung des Krieges mit ökonomischen Mitteln. Berücksichtigt man die soziale Situation in den Krisenländern Südeuropas, sind in diesem Krieg schon viele zu viele unter die Räder gekommen. Der griechische Schriftsteller Petros Markaris (Krimiserie: "Ein Fall für Kostas Charitos") meint, Deutschland sei mittlerweile in Griechenland, Spanien und Italien wegen der aufoktroyierten Austeritätspolitik so unbeliebt, dass sich sogar Intellektuelle dafür schämen würden, jemals Deutsch gelernt zu haben. [20] "100 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg macht sich in Europa wieder blanker Hass breit." Kein gutes Zeichen, glaubt Markaris, der jedoch die politischen Zustände in seinem Heimatland keineswegs verteidigt.

Aber Hauptsache, Deutschland geht es gut und Angela Merkel bleibt Bundeskanzlerin.

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[1] Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 431 vom 17.12.2013
[2] Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 437 vom 19.12.2013
[3] Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 406 vom 29.11.2013
[4] Statistisches Bundesamt, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach Tarifbindung
[5] Spiegel-Online vom 25.07.2013
[6] Süddeutsche vom 17.12.2013
[7] RP-Online vom 17.12.2013
[8] ifo-Institut, Interview mit Hans-Werner Sinn, Reuters, 05.11.2008
[9] ifo-Institut, Interview mit Hans-Werner Sinn, Euro am Sonntag online, 12.12.2008
[10] Statistisches Bundesamt, Bruttoinlandsprodukt (Vierteljahres- und Jahresangaben), Lange Reihen ab 1970, Excel-Datei mit 139 kb
[11] ifo-Institut, Interview mit Hans-Werner Sinn, Finanz und Wirtschaft, 30.12.2009, Nr. 101, S. 26
[12] tagesschau.de vom 26.10.2012
[13] Handelsblatt vom 08.11.2012
[14] Statistisches Bundesamt, Monatsstatistik im Einzelhandel, Stand: 22.12.2013
[15] Spiegel-Online vom 20.12.2013
[16] Handelsblatt vom 07.11.2013
[17] Süddeutsche vom 18.05.2013
[18] Süddeutsche vom 21.12.2013
[19] CDU, Koalitionsvertrag, PDF-Datei mit 1,3 MB
[20] Süddeutsche vom 20.12.2013